Unterschiede in der Lebenserwartung in Westfalen

08.12.2022 Peter Wittkampf

Inhalt

Die Lebenserwartung gilt als wichtiger Indikator für den sozioökonomischen Entwicklungsstand eines Landes oder einer Region. In Nordrhein-Westfalen hatten – nach IT.NRW – in dem Zeitraum von 2019 bis 2021 neugeborene Mädchen im Durchschnitt eine Lebenserwartung von 82,9 Jahren, neugeborene Jungen von 78,3 Jahren.

Anders als in anderen Regionen Deutschlands wirkte sich in NRW die Corona-Pandemie nicht sehr gravierend auf die mittlere Lebenserwartung Neugeborener aus. Für die folgende Analyse werden die Durchschnittszahlen des Zeitraums 2015–2017, also vor Corona, zugrunde gelegt. Diese liegen für Westfalen flächendeckend und gesichert auf Kreisebene vor.

Drei Aspekte sind es in der Hauptsache, die im Zusammenhang mit der Lebenserwartung bemerkenswert erscheinen: der statistische Unterschied zwischen den Zahlenwerten der beiden Geschlechter, die räumlichen Unterschiede und die Entwicklungstendenzen im Verlauf der letzten Jahre. Bei allen drei Aspekten gibt es in Westfalen signifikante Merkmale.

Abb. 1: Mittlere Lebenserwartung der 2015–2017 neugeborenen Jungen und deren Anstieg gegenüber 2006–2008 (Quelle: www.lzg.nrw.de, eigene Berechnungen)

Lebenserwartungsunterschiede zwischen Frauen und Männern

Männer haben in Deutschland – und auch in Westfalen – eine deutlich geringere Lebenserwartung als Frauen.

Hierfür werden in aktuellen Untersuchungen u. a. folgende Hauptgründe genannt:
• X- und Y-Chromosomenunterschiede zwischen Frauen und Männern (AOK 2022),
• hormonelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern (AOK 2022),
• Rauchverhalten (BiB 2022; RND 02.11.2022),
• Bildung speziell der Mutter (DIW 2019),
• "Lebensumstände von Personen am unteren Ende des sozioökonomischen Spektrums" (Rau/Schmertmann 2020, S. 498),
• Luftverschmutzung (Prinz / Richter 2021) (s. Beitrag Pott),
• "Sozialstatus und Bildungsgrad" (Sütterlin 2017) (s. Beitrag Wittkampf),
• "hohe Arbeitslosenzahlen und die Quote der Hartz-IV-Empfänger" (DIE WELT, 20.07.2020),
• Adipositas (Tagesschau, 03.12.2022),
• Lebensstil (Konsumverhalten, Adipositas, Gesundheitsbewusstsein usw.) (RKI 2014; AOK 2022).

Die Untersuchungen kommen allerdings mehrheitlich zu der Auffassung, dass die sozialen bzw. sozioökonomischen Gründe bedeutend wichtiger sind als die biologischen.

Tab. 1: Sozioökonomische Vergleichszahlen von Gelsenkirchen und Münster (Quellen: it.nrw; lzg.nrw.de; arbeitsagentur.de)

Männer ernähren sich – Untersuchungen zufolge – im Mittel ungesünder als Frauen, rauchen mehr, trinken mehr Alkohol, sind häufiger als Frauen Unfallopfer, nutzen Vorsorgeuntersuchungen seltener etc. (RKI 2014). Gerade die wechselseitigen Beeinflussungen dieser einzelnen Negativfaktoren potenzieren die Mortalität und mindern die Lebenserwartung bei Männern sehr deutlich, und zwar in regional unterschiedlichem Maße. Neugeborene Jungen hatten im Durchschnitt der Jahre 2015–2017 z.B. in Gelsenkirchen und Herne nur eine Lebenserwartung von 75,8 Jahren, in Münster und im Kreis Coesfeld dagegen von 79,9 bzw. 79,5 Jahren (Abb. 1). Die Spanne zwischen den regionalen "Extremwerten" (75,8 und 79,9) betrug also 4,1 Jahre.

Bei den neugeborenen Mädchen war in diesen Jahren nicht nur die Lebenserwartung deutlich höher, sondern die regionalen "Extremwerte" lagen auch näher beieinander als bei den Jungen. Die niedrigste Lebenserwartung hatten neugeborene Mädchen 2015–2017 in Gelsenkirchen (81,0 Jahre) und Herne (81,3), die höchste in Münster (84,0) und im Kreis Warendorf (83,8) (Abb. 2).

Bei der männlichen Bevölkerung ist die Mortalität besonders dort sehr hoch, wo mehrere der oben genannten Negativfaktoren zusammenkommen, sich also gegenseitig steigern. Für Mädchen bzw. Frauen sind die o.g. negativen Einflussfaktoren insgesamt weniger charakteristisch, also machen sich auch die Wechselwirkungen weniger stark bemerkbar.

Einen direkten, exemplarischen Städtevergleich in Bezug auf themenrelevante Merkmale ermöglicht Tabelle 1.

Abb. 2: Mittlere Lebenserwartung der 2015–2017 neugeborenen Mädchen und deren Anstieg gegenüber 2006–2008 (Quelle: www.lzg.nrw.de, eigene Berechnungen)

Regionale Unterschiede und Entwicklungstendenzen

Im Zeitraum 2006–2008 hatten neugeborene Mädchen in Westfalen noch eine etwa sechs Jahre längere Lebenserwartung als neugeborene Jungen. Im Durchschnitt der Jahre 2015–2017 hatte sich dieser Unterschied auf etwa 4,6 Jahre verringert. Dabei verbesserte sich die Lebenserwartung bei neugeborenen Mädchen (Abb. 2) z.B. im Kreis Siegen-Wittgenstein um 1,6 Jahre, in Hagen und Bottrop dagegen nur um 0,2 Jahre. Bei den Jungen (Abb. 1) waren die Verbesserungen im Durchschnitt stärker, sodass diese im Vergleich zur Lebenserwartung der Mädchen "aufholten". Im Kreis Borken beispielsweise nahm die Lebenserwartung der Jungen um 2,2 Jahre zu, in Münster um 2,0 Jahre. Die geringste Positiventwicklung gab es dagegen bei Jungen in Herne (+0,2 Jahre) und Bochum (+0,6).

Begründet werden die Geschlechterunterschiede hinsichtlich der Positiv­tendenzen u.a. mit dem gestiegenen Gesundheitsbewusstsein, das sich jetzt z.T. auch bei Männern entwickelt, wenn die Lebensumstände dies fördern. Das bewusste Vermeiden unnötiger Risiken, mehr gesundheitliche Vorsorgemaßnahmen usw. machen sich in einer längeren Lebenserwartung bemerkbar. Wenn allerdings das "Umfeld" solche Tendenzen nicht fördert oder sich weiterhin negativ auswirkt, profitiert die männliche Bevölkerung in dieser Hinsicht kaum. Einige Beispiele: Laut der Kaufmännischen Krankenkasse nahm krankhaftes Übergewicht schon bei Kindern vor allem "in sozialen Brennpunkten" besonders stark zu (Tagesschau, 03.11.2022). In der WELT war am 20.07.2020 zu lesen: "Lebenserwartung im Ruhrgebiet deutlich unter Bundesschnitt. [...] Die Wissenschaftler sehen unter anderem hohe Arbeitslosenzahlen und die Quote der Hartz-IV-Empfänger als Erklärungen". Und die Bundeszentrale für politische Bildung stellte 2021 eine Studie vor, nach der "Personen mit niedriger Bildung" weitaus häufiger rauchen als "Personen mit höherer Bildung".

Zur Verdeutlichung der Unterschiede speziell bei den regional verschiedenen Entwicklungstendenzen könnte man beispielsweise die Steigerungen beim verfügbaren Einkommen für Gelsenkirchen und Münster betrachten: Während sich dies in Gelsenkirchen von 2013 bis 2018 lediglich um 9,1% erhöhte, stieg es im gleichen Zeitraum in Müns­ter um 15,4% an (IT.NRW, eigene Berechnungen).

Die Bedeutung sozioökonomischer Faktoren zeichnet sich an solchen Beispielen deutlich ab.

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Weiterführende Literatur/Quellen

  • AOK (Hg.) (2022): Nicht nur Biologie: warum Frauen älter werden als Männer. (https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/stoffwechsel/warum-werden-frauen-aelter-als-maenner)
  • Berger, U. (2022): Männer sterben früher, Frauen leiden mehr. In: Die Psychotherapie, Heft 67/2022, S. 288ff. (https://link.springer.com/article/10.1007/s00278-022-00606-w#Sec3)
  • BiB Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hg.) (2022): Rauchen ist ein wesentlicher Faktor für regionale Unterschiede in der Sterblichkeit. (https://idw-online.de/de/news803884)
  • bpb Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) (2021): Bildung als Ressource für Gesundheit. Datenreport 2021. (https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/gesundheit/330123/bildung-als-ressource-fuer-gesundheit)
  • DIE WELT (20.07.2020): Lebenserwartung im Ruhrgebiet deutlich unter Bundesschnitt. (https://www.welt.de/regionales/nrw/article211915181/Lebenserwartung-im-Ruhrgebiet-deutlich-unter-Bundesschnitt.html)
  • DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hg.) (2019): Menschen mit niedriger gebildeter Mutter haben geringere Lebenserwartung. In: DIW Wochenbericht 12/2019. (www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.617298.de/19-12-2.pdf)
  • Fischer, K. (2022): Warum Männer früher sterben. (National  Geographic, 29.07.2022; www.nationalgeographic.de/wissenschaft/2022/07/warum-maenner-frueher-sterben-studie-liefert-erste-eindeutige-beweise)
  • IT.NRW Information und Technik Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2022): Durchschnittliche Lebenserwartung in NRW verändert sich kaum. (Pressemitteilung vom 26.07.2022, https://www.it.nrw/node/108411/pdf)
  • Prinz, A. und D. J. Richter (2021): Feinstaubbelastung und Lebenserwartung in Deutschland. (https://link.springer.com/article/10.1007/s11943-021-00292-1.pdf)
  • quarks (27.01.2021): Sozialstatus: So stark ändert er deine Lebenserwartung.
    (www.quarks.de/Gesellschaft/so-aendert-sich-deine-lebenserwartung-mit-deinem-sozialstatus)
  • Rau, R. und C. P. Schmertmann (2020): Lebenserwartung auf Kreisebene in Deutschland. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 117, Heft 29-30, S. 493ff. (https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=214715)
  • RKI Robert Koch-Institut (Hg.) (2014): Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin (https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/maennerbericht/kapitel_8_zusammenfassung.pdf?__blob=publicationFile)
  • RND RedaktionsNetzwerkDeutschland (Hg.) (2022): Studie: Unterschiedliche Lebenserwartung auch durch Rauchen bedingt. (https://www.rnd.de/gesundheit/studie-rauchen-grund-fuer-unterschiedliche-lebenserwartung-B7ZCMTCAVNCLFNECOAK5NWRNF4.html)
  • Sütterlin, S. / Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2017): Hohes Alter, aber nicht für alle. Wie sich die soziale Spaltung auf die Lebenserwartung auswirkt.
    (https://www.berlin-institut.org/studien-analysen/detail/hohes-alter-aber-nicht-fuer-alle)
  • Tagesschau (03.11.2022): Überflüssige Kilos – Krankhaftes Übergewicht bei Kindern nimmt zu. (https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/kinder-uebergewicht-101.html)
  • https://www.arbeitsagentur.de
  • https://www.it.nrw
  • https://www.lzg.nrw.de
  • https://www.westfalen-regional.de/de/luftverschmutzung
  • https://www.westfalen-regional.de/de/schulabgaenge

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Erstveröffentlichung 2022

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