Westfalen als Auswanderungsland zwischen 1200 und 1900

15.03.2017 Erhard Treude

Inhalt

Dass Westfalen ein Auswanderungsland war, ist leicht zu belegen; den genauen Umfang der Auswanderung d.h. der dauerhaften Abwanderung ins europäische Ausland inkl. Österreich und nach Übersee zu bestimmen, ist angesichts der erheblichen Lücken in der Aktenüberlieferung jedoch nicht möglich. Die vorliegenden Ausführungen sollten daher nur als Versuch angesehen werden, alle bis 1900 für mehr als 1.200 Bauernschaften, Landgemeinden, Kirchspiele und Ortsteile zugänglichen Auswanderer-Namenslisten auf der Basis von 219 der insgesamt 231 im LWL-Verbandsgebiet liegenden Städte und Gemeinden nach zahlenmäßiger Stärke sowie Herkunfts- und Zielgebieten auszuwerten und damit zumindest die wichtigsten Trends sichtbar zu machen. Für das 20. Jh. sind umfassende Quellen kaum mehr vorhanden bzw. aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht zugänglich.

Abb. 1: Gesamtzahlen nachgewiesener Auswanderungen aus Westfalen 1700–1900 (Quelle: Treude 2013, Begleittext S. 12)

Die quantitativ bedeutendsten Zielgebiete

Bereits um 1180 erfolgten als Beginn der Kolonisation im Baltikum die sog. Aufsegelung der Düna durch vermutlich auch westfälische Kaufleute und 1201 die Gründung der Stadt Riga; parallel dazu entstand 1202 im Zuge der "Heidenmission" zur Ausbreitung des Christentums und zum Schutz des Landes der geistliche Schwertbrüderorden, der Jahrhunderte lang eine Art Versorgungseinrichtung für nachgeborene Söhne westfälischer Landadelsgeschlechter bildete. Die selbst an den Zölibat gebundenen Ordensritter zogen Verwandte und Freunde nach, die als ritterliche Vasallen ländliche Güter anlegten, während gleichzeitig in den Städten, insbesondere in Riga, Reval und Dorpat, westfälische Kaufleute und Handwerker durch Zahl und Einfluss das Geschehen bestimmten. Auch wenn die Zahl der nach Altlivland (heute der größte Teil der Länder Lettland und Estland) ausgewanderten Westfalen nicht annäherungsweise zu bestimmen ist: Die Bezeichnung "überseeisches Westfalen" hatte in jedem Fall ihre Berechtigung.

Ab dem 17. Jh. waren die Niederlande für das nördliche Münsterland, das Tecklenburger Land und auch Lippe aufgrund ihrer boomenden Wirtschaft und des entsprechenden Arbeitsplatzangebots das Haupt-Auswanderungsziel in Europa. Auch viele Saisonarbeiter, Hollandgänger (d.h. Torfstecher, Kanalarbeiter, Grasmäher und Ziegler) und Wanderhändler kehrten nicht nach Westfalen zurück, sondern zogen Verwandte und Freunde nach. Die Gesamtzahl der Niederlande-Auswanderer dürfte damit beträchtlich höher liegen als die für den Zeitraum 1700 bis 1900 namentlich ermittelten 2.410 Personen. Ein gewaltiger, im Lande selbst nicht zu deckender Arbeitskräftebedarf entstand zusätzlich ab 1602 mit der Gründung der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC) und ab 1652 mit der Anlage einer Versorgungsstation für den Ostasienhandel am Kap der Guten Hoffnung: 94 Westfalen konnten als Soldaten im Dienst der VOC in Ostasien ermittelt werden, 125 sind für die Kap-Kolonie namentlich bekannt; nach Ablauf ihrer Dienstzeit konnten sie als Freibürger im Land bleiben. Des Weiteren beteiligten sich 1848 weitere 43 Westfalen aus Westerkappeln und Lienen nach der britischen Eroberung der Kap-Kolonie in der von Buren 1841 eingerichteten unabhängigen Republik Natal an der Gründung der Siedlung Neu-Deutschland nahe Durban.

Bereits im 17. Jh. traten erste Westfalen in Nordamerika auf: 18 Personen werden für die 1623 geschaffene Kolonie Neu-Niederlande mit dem drei Jahre später ge gründeten Neu-Amsterdam (heute New York) genannt. Die erste Gruppenauswanderung ist für 1714 belegt, als 42 Siegerländer Berg- und Hüttenleute aus dem Raum Müsen-Trapbach (Hilchenbach und Siegen) nach Virginia für den Bau eines der ersten Hochöfen in Nordamerika angeworben wurden; für 1734 und 1738 sind Gruppen von 20 bzw. 43 Siegerländern aus Freudenberg und Umgebung nachgewiesen. Die eigentliche Massenauswanderung, die in mehreren Wellen tausende Westfalen – rd. 90.000 sind namentlich bekannt – nach Nordamerika brachte, setzte in Wittgenstein bereits 1796, im Münsterland um 1830/33 und in Ostwestfalen ab den 1840er Jahren ein. Von entscheidender Bedeutung für die Ortswahl war offenbar der briefliche Kontakt der Erstauswanderer mit Familienangehörigen und Bekannten in der Heimat, die in häufig Jahrzehnte lang bestehenden Kettenwanderungen nachzogen, was in vielen Fällen – bei gleicher Herkunft und Konfession – zur Konzentration von Westfalen in ländlichen homogenen Siedlungen führte. Die bereits bestehenden größeren Städte hingegen dienten einerseits als Zwischenstationen, in denen Geld für Kauf und Einrichtung einer Farm verdient wurde; andererseits nahmen sie einen Großteil der westfälischen Einzelauswanderer auf.

Die Wiederbesiedlung des Banats durch Österreich ab 1718 nach 164-jähriger Türkenherrschaft vollzog sich in drei Perioden unter Beteiligung von Kolonisten aus dem kurkölnischen Sauerland: Rd. 120 Personen aus dem Raum Drolshagen-Wenden sind für die erste, über 1.000 Sauerländer sowie 125 Siegerländer und 21 Wittgensteiner für die zweite Phase belegt. Mitte der 1780er Jahre wurden bei der Durchreise in Wien noch einmal 644 Auswanderer registriert, überwiegend mit der Herkunftsangabe "a.d. Sauerland" und "a.d. Kölnischen", d.h. aus dem kölnischen Sauerland; ihre Herkunfts- und Ansiedlungsorte bedürfen noch einer weiteren Klärung.

Nach der Ausrufung eines unabhängigen Kaiserreichs Brasilien 1822 setzte eine planmäßige Anwerbung auch westfälischer Bauern in die südbrasilianischen Bundesstaaten Rio Grande do Sul und Santa Catarina ein: Ab 1827 erfolgte der Zuzug von Familien aus Wittgenstein, ab 1860 aus dem Münsterland, 1868 bis 1872 aus dem Tecklenburger Land; insges. 1.326 westfälische Einwanderer konnten bisher festgestellt werden.

1834 schickte die Regierung von Jamaika einen Agenten nach Deutschland, der im Raum Brakel-Höxter 263 Auswanderungswillige anwerben konnte.

Für Chile wurden zwischen 1851 und 1900 insgesamt 323 Westfalen – davon allein 134 aus Werl – gewonnen, die sich offenbar überwiegend als Bauern um den Llanquihue-See bzw. als Handwerker in den größeren Orten im Süden ansiedelten.

Auswanderungsgründe

Es waren in erster Linie die – hier nur verkürzt und unvollständig wiedergegebenen – wirtschaftlichen Bedingungen in der Heimat, die das Wanderungsgeschehen maßgeblich bestimmten:

  • die starke Verschuldung der Höfe durch grundherrliche Verpflichtungen sowie laufende und außerordentliche Steuern, etwa zur Deckung der Kriegskosten,
  • die spürbare Verschuldung der Bauern im Zuge der Bauernbefreiung der Stein-Hardenbergschen Reformen durch die Abtretungsmodalitäten, Geldzahlungen oder Landabtretungen an den Grundherrn,
  • die Nicht-Berücksichtigung der unterbäuerlichen Schichten bei den Gemeinheitsteilungen und der Wegfall ihrer traditionellen Viehfutter- und Brennholzgewinnug,
  • die Krise der landwirtschaftlichen Nebengewerbe Garnspinnerei und Leinenweberei durch die napoleonische Kontinentalsperre, die Einführung des mechanischen Webstuhls sowie die Verdrängung des Leinens durch die Baumwolle und der Mangel an industriellen Arbeitsplätzen zum Auffangen der aus der Landwirtschaft Ausscheidenden (gerade der Grad der Industrialisierung einer Region wirkte sich nachweislich auswanderungshemmend aus),
  • die für das dörfliche wie städtische Handwerk negativen Folgen durch die Verbreitung billiger maschinell hergestellter Produkte.

Der Mangel an Einkommens-Alternativen bei wachsendem Bevölkerungsdruck bewirkte insbesondere im nördlichen Ostwestfalen eine drastische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage vor allem der unterbäuerlichen Schichten und führte zu einer verstärkten Auswanderung in die Vereinigten Staaten (Abb. 1).

Entscheidend ist in jedem Fall, dass die Zielgebiete, insbesondere die USA, den in materielle Not geratenen Westfalen wie das "gelobte Land" erscheinen mussten.

Sieht man von dem aus missionarischem Eifer ins Baltikum gezogenen westfälischen Landadel einmal ab, ist eine religiös motivierte Auswanderung in Westfalen allein als lokale Erscheinung zu beobachten: Ab 1805 wanderten Quäkerfamilien mit rd. 35 Personen aus dem Raum Vlotho und Bad Oeynhausen in die USA, 1881 zwölf Mitglieder der chiliastischen Auszugsgemeinde von Hemer in den Kaukasus. Auch die Zahl derer, die aus politischen Gründen in die USA auswanderten, ist mit ca. 20 Personen verschwindend gering. Unter den individuellen Auswanderungsgründen stehen an erster Stelle die Flucht vor Wehrdienst, Strafverfolgung oder Unterhaltsverpflichtungen, aber auch familiäre Gründe: Tod eines Elternteils und nachfolgende Wiederverheiratung sowie Geburt eines unehelichen Kindes, wodurch die Mütter ins soziale Abseits gerieten.

Insgesamt konnten 108.000 westfälische Auswanderer namentlich ermittelt werden, ihre genaue Zahl dürfte aber aus den eingangs genannten Gründen beträchtlich höher, vermutlich bei 250.000 liegen. Durch detaillierte Lokalstudien ließen sich unsere Kenntnisse sicherlich weiter vertiefen.

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Weiterführende Literatur/Quellen

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Erstveröffentlichung 2016