Strukturwandel des Dorfes in Westfalen seit 1950

01.01.2007 Gerhard Henkel

Inhalt

Alle sind sich einig: Das westfälische - wie generell auch das deutsche - Dorf ist nicht mehr das, was es einmal war. Die kurze Zeitspanne von 1950 bis heute hat einen radikalen Wandel erlebt, den man seinerzeit nicht für möglich gehalten hätte. In dieser Überblicksskizze können nur die wesentlichen Veränderungsprozesse vereinfacht dargestellt werden, der Begriff "Dorf" steht hier als Synonym für ländliche Siedlung.

Abb. 1: Ottenhausen im Kreis Höxter (Foto: B. Heuser 1981, aus: "Steinheim", Heimatverein Steinheim e.V. 1982)

Merkmale des Wandels

► Das Ortsbild:
Das Dorf um 1950 war in seinem Baubestand relativ geschlossen und homogen und auch überaltert, u.a. bedingt durch die zwei Weltkriege gab es nur relativ wenige Neubauten und Dorferweiterungen aus der 1. Hälfte des 20. Jh.s. Seit den 1950er Jahren entwickelte sich nun - als zweite dörfliche Realität - die moderne Neubausiedlung mit reinen Wohnhäusern am Ortsrand (Abb.1), und zwar zunächst auf großen Grundstücken mit ca. 1200 - 1800 m2 Fläche, da den "Siedlern" eine landwirtschaftliche(!) Basis der Selbstversorgung gegeben werden sollte. In sehr vielen Dörfern übertrifft die Anzahl der nach 1950 errichteten Häuser den Bestand von 1950. Vor allem in den dichtbebauten Dörfern der Börde und Ostwestfalens kam es von etwa 1955 bis 1975 zu zahlreichen - staatlich geförderten - Aussiedlungen landwirtschaftlicher Betriebe in die Feldflur (s. Beitrag Henkel). Die frei werdenden Gehöfte nutzte man häufig zu "Ortsauflockerungen". Dem oft überdimensionierten Straßen- und Platzausbau mussten zahlreiche Gebäude, Mauern, Hofplätze und Gärten weichen, viele Häuser wurden "modernisiert". Die Fachplanungen betrieben eine "Dorfsanierung", die - analog zu den Städten - wenig Rücksicht auf überlieferte Substanzen nahm. Nach 1975/77 kam die Wende zu einer mehr "erhaltenden" Dorferneuerung, die zunehmend die Bautraditionen des Dorfes respektierte. Inzwischen geht man meist sehr behutsam mit dem kulturellen Erbe des Dorfes um.

Tab. 1: Infrastrukturentwicklung in mittelgroßen Dörfern von 1950 bis 2006 (Quelle: G. Henkel 2006)

► Landwirtschaft, Handwerk, Infrastruktur:
Etwa 80% der Dorfgebäude hatten um 1950 noch landwirtschaftliche Funktionen. Heute sind es maximal noch 10%. Gebäudeleerstand alter Höfe, vor allem der Ställe und Scheunen, ist derzeit ein großes Problem. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das (westfälische) Dorf bis heute immer noch mit seiner dominanten landwirtschaftlichen Bausubstanz definiert wird. Ähnliche Verluste wie die Landwirtschaft hat das dörfliche Handwerk erlebt. Um 1950 waren in jedem mittelgroßen Dorf praktisch alle Handwerkssparten vertreten, man war diesbezüglich autark. Heute sind viele Dörfer z.B. gänzlich ohne Schmiede, Schneider, Schreiner, Sattler oder Schuster. Neben den Betrieben und Erwerbspersonen in Land- und Forstwirtschaft und Handwerk hat das Dorf einen Großteil seiner ehemals typischen Infrastruktur verloren: Den Bürgermeister und lokalen Gemeinderat, die Schule, die Post, den Polizeiposten, Geschäfte und Gasthöfe (Tab. 1). Diesen Verlusten stehen "Gewinne" im Sport- und Freizeitbereich sowie bei der technischen Versorgung gegenüber. An Sportplätzen, Sporthallen, Schwimmbädern, Reiterhöfen, Tennis- und Golfplätzen, Trimmpfaden und Wanderwegen steht heute ein ungleich größeres Angebot als 1950 zur Verfügung. Wasser-, Strom- und Gasversorgung, Kanalisation, moderner Straßenbau, Telefon, Fernsehen und Internet haben inzwischen auch das letzte periphere Dorf erreicht, so dass wir hier heute von einer Vollversorgung sprechen können.

Abb. 2: Dortmund-Grevel 1950 und 2002, ein Dorf mit Gemarkung am Rande des Ballungsraumes, geprägt durch wachsende Flächenansprüche einer Großstadt (Quelle: G. Henkel 2004)

Stadtnahe – stadtferne Dörfer

Der skizzierte bauliche und sozioökonomische Strukturwandel weist natürlich große regionale Unterschiede und Besonderheiten auf. Generell sind erhebliche Entwicklungsdifferenzen zwischen stadtnahen und stadtfernen Dörfern zu beobachten. Während Ottenhausen als großstadtfernes Dorf (Abb. 1) schon vom Ortsbild her noch leicht als ländliche Siedlung zu erkennen ist, fällt dies bei dem Beispiel Dortmund-Grevel deutlich schwerer (Abb. 2). Um 1950 noch klar als Dorf und Gemarkung mit überwiegenden landwirtschaftlichen Funktionen erkennbar, mußte Grevel in den folgenden Jahrzehnten massive Überformungen durch wachsende Flächenansprüche einer Großstadt hinnehmen. Durch Trabantenstadt, Schrebergärten, Bezirksfriedhof, Abfalldeponie und Stadtschnellbahn hat das kleine Dorf weit mehr als die Hälfte seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche verloren, die ehemaligen Höfe haben überwiegend eine Umnutzung erfahren (z.B. durch Reitsport), Mietshäuser haben zur Verdichtung des Ortsbildes und Veränderung des sozioökonomischen Gefüges geführt. Bemerkenswert ist, dass die Bewohner Grevels ihren Ort auch im Jahre 2006 noch als ,"Dorf" bezeichnen. Der ständig wachsende Siedlungsdruck auf Dörfer wie Grevel im Umfeld von Agglomerationen oder Großstädten hat in den betroffenen ländlichen Regionen in wenigen Jahrzehnten zu derart einschneidenden Überformungen geführt, die auch in seriösen Darstellungen als struktur- und gesichtsloser Siedlungsbrei bezeichnet werden. Die Wissenschaft hat vor einigen Jahren für diese Gebiete, die nicht mehr Dorf, aber noch nicht Stadt sind, den Begriff der "Zwischenstadt" eingeführt.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007