Reaktivierungen im Schienenpersonennahverkehr in Westfalen

16.05.2023 Christian Hübschen

Kategorie: Verkehr

Schlagworte: Westfalen · Schienenverkehr · ÖPNV

Inhalt

Vorgeschichte

Das Eisenbahnnetz in Westfalen erreichte etwa um das Jahr 1935 seine größte Ausdehnung, ehe nach 1945 ein langsamer Rückzug der Eisenbahn mit einer deutlichen Netzreduzierung stattfand (Hübschen 2010a), der sich vor allem im ländlichen Raum widerspiegelt. Infolge dieser Entwicklung wurden bis Ende 2022 insgesamt etwa 1.300 km Eisenbahnstrecken – fast ein Drittel des westfälischen Eisenbahnnetzes – wieder stillgelegt (Hübschen 2010b).

Mit der Regionalisierung 1996 (Hübschen 2010c) ging die Verantwortung und Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) bundesweit auf den Bund bzw. die Bundesländer über, die diese Aufgabe wiederum an die Zweckverbände delegierten; in Westfalen sind dies der Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL) und – für den westfälischen Teil des Ruhrgebiets – der Zweckverband Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR).

Um die Mobilität in der Region zu sichern, sind seitdem mit hohem finanziellen Einsatz, den sog. Regionalisierungsmitteln, der öffentliche Verkehr und insbesondere die Schienenverkehre innerhalb Westfalens deutlich gestärkt worden. So erfolgten die Einführung eines verständlicheren Taktfahrplans, ein massiver Ausbau des vorhandenen SPNV-Angebots und der Einsatz moderner Schienenfahrzeuge sowie ferner die Modernisierung der Infrastruktur (Strecken und Bahnhöfe).

In den letzten Jahren rückten darüber hinaus vermehrt Reaktivierungen von Eisenbahnstrecken in den Fokus, um Lücken im SPNV-Netz zu schließen und neue Potenziale zu entwickeln.

Warum Strecken reaktivieren?

Auch der Branchenverband "Verband deutscher Verkehrsunternehmen" (VDV) unterstützt Reaktivierungen und nennt in seinem Positionspapier vom August 2022 "Auf der Agenda: Reaktivierung von Eisenbahnstrecken" vier Gründe, die grundsätzlich für Reaktivierungen sprechen:

  1. Reaktivierungen sind aus Umweltsicht sinnvoll, da sie zur Verkehrsverlagerung und dem Erreichen von Klimaschutzzielen beitragen.
  2. Reaktivierungen stärken strukturschwache Räume, da eine Anbindung an das Eisenbahnnetz für Unternehmen einen gravierenden Standortvorteil darstellt; ebenso wird dadurch die Wahl des Wohnortes – auch bei Autofahrern – positiv beeinflusst.
  3. Es gibt zahlreiche Mittelzentren ohne Bahnanschluss. Von den bundesweit über 900 als Mittelzentrum eingestuften Kommunen sind 122 mit zusammen fast 1,8 Mio. Einwohnern nicht an das SPNV-Netz angeschlossen, obgleich 119 dieser Orte früher im SPNV bedient wurden. In Westfalen sind das Barntrup, Bergkamen, Beverungen, Blomberg, Büren, Datteln, Delbrück, Hemer, Radevormwald, Rietberg, Schmallenberg, Sprockhövel, Stadtlohn, Sundern, Vreden, Waltrop und Warstein; lediglich Oer-Erkenschwick besaß nie einen SPNV-Anschluss.
  4. Reaktivierungen bergen auch Chancen im Güterverkehr. Beispielsweise sind die "Hidden Champions" (also eher unbekannte, aber marktführende Firmen) der Industrie vielfach nicht in den Ballungsräumen, sondern in länd­lichen Regionen zu finden (Hübschen 2022) und generieren häufig ein erhebliches Güteraufkommen, das nach Struktur und Menge durchaus für den Schienentransport geeignet ist.

Voraussetzungen für eine Reaktivierung

Mit einer Reaktivierung sind hohe planerische und finanzielle Aufwendungen verbunden, sodass eine sorgfältige Vorplanung und eine risikobewusste Entscheidung unverzichtbar sind. Diese wird über die sog. Standardisierte Bewertung getroffen, in der das Nutzen-Kosten-Verhältnis berechnet wird. Liegt in dieser Wirtschaftlichkeitsberechnung der Wert über 1,0, dann ist eine Reaktivierung – zumindest wirtschaftlich – gerechtfertigt.

Zudem sollte die Streckeninfrastruktur noch vorhanden und vor allem rechtlich dem Eisenbahnverkehr gewidmet sein. Dennoch muss diese in der Regel vollständig saniert und meist neu aufgebaut werden, insbesondere an den Haltepunkten, um den Anforderungen an einen sicheren Eisenbahnbetrieb und einen barrierefreien Zugang zu genügen.

Abb. 1: SPNV-Netz in Westfalen sowie bereits umgesetzte bzw. angestrebte Reaktivierungen (Stand: 05/2023) (Entwurf: C. Hübschen; Kartographie: H. Pohlmann; Quelle: DB Netz AG)

Reaktivierte Strecken

Als erste Strecke in Westfalen ist bereits im Jahr 2001 die (1981 eingestellte) 7,5 km lange Strecke von Gronau nach Enschede reaktiviert und damit gleichzeitig eine Lücke zwischen dem deutschen und dem niederländischen Netz geschlossen worden (Geuckler 2007). Der Erfolg war seither so groß, dass aktuell die Züge hier im Halbstundentakt verkehren und die durchgängige Elektrifizierung von Münster nach Enschede sowie die Einbindung in das S-Bahn-Netz Müns­terland geplant ist.

Sechs Jahre darauf folgte 2007 in Ostwestfalen die Verlängerung der von Bielefeld kommenden und bis 1980 bis Hameln durchgängigen Strecke vom damaligen Endpunkt Lemgo um rund 1,3 km bis nach Lemgo-Lüttfeld zum dortigen Schulzentrum.

Im nördlichen Sauerland ging zwischen den Bahnhöfen Brilon Wald und Brilon Stadt im Jahr 2011 ein 7,3 km langer Abschnitt der einst bis Paderborn führenden Almetalbahn nach 30 Jahren wieder in Betrieb. Die Züge bis bzw. von Brilon werden in Brilon Wald in einem angenäherten Stundentakt mit den Zügen der Oberen Ruhrtalbahn Hagen – Warburg geflügelt, d.h. getrennt bzw. vereinigt, und stellen somit eine direkte Verbindung zum südöstlichen Ruhrgebiet her.

Ein längerer Lückenschluss zwischen Westfalen und dem Rheinland erfolgte mit der Reaktivierung des 1986/87 stillgelegten Abschnitts Marienheide – Lüdenscheid-Brügge (37,4 km) der Volme- bzw. Aggertalbahn Hagen – Köln. In zwei Etappen (2013 und 2017) gingen Marienheide – Meinerzhagen und Meinerzhagen – Brügge wieder in Betrieb; Gummersbach – Marienheide wurde seit 2003 wieder befahren. Heute ist Brügge Verknüpfungspunkt der stündlich aus Hagen bzw. von Köln kommenden Züge, die jeweils Lüdenscheid zum Ziel haben.

Im nördlichen Ruhrgebiet verkehrt seit September 2020 die S-Bahn-Linie S 9 auf dem neuen Linienast von Bottrop über Gladbeck West nach Recklinghausen (14,9 km) über die Hertener Bahn, die 1983 letztmalig im SPNV befahren wurde. Die Zwischenhalte Gelsenkirchen-Buer Nord und Herten-Westerholt können mangels Infrastruktur noch nicht genutzt werden; der Haltepunkt Herten wurde Ende 2022 eröffnet.

Ein für Westfalen wichtiger Lü­ckenschluss war zudem im Jahr 2005 die Reaktivierung des 26 km langen niedersächsischen Abschnitts Dissen-Bad Rothenfelde – Osnabrück des sog. Haller Willem, da hierduch Bielefeld und Osnabrück eine direkte, im Stundentakt befahrene SPNV-Verbindung erhielten. Die Reaktivierung war übrigens ein dezentrales Projekt der Weltausstellung Expo 2000 in Hannover.

Zudem werden zwei kurze Verbindungsstrecken wieder im SPNV befahren, nämlich Herne – Recklinghausen Süd (3,8 km) und Abzweig Heide – Schwerte Ost (2,1 km).

Weitere Reaktivierungsvorhaben

Zu den genannten und bereits umgesetzten Reaktivierungen sollen weitere kommen, für die die Standardisierte Bewertung positiv ausgefallen ist: 
• Münster – Sendenhorst (Umsetzung bis 2025), 
• Verl – Gütersloh – Harsewinkel (bis 2023) und 
• Osnabrück – Recke.

Die ersten beiden Vorhaben wurden bereits in den ÖPNV-Bedarfsplan und den ÖPNV-Infrastrukturfinanzierungsplan NRW aufgenommen. Die Strecke Osnabrück – Recke wurde vom NWL zur Aufnahme in die Pläne angemeldet. Als weiteres Reaktivierungsprojekt des NWL ist die Röhrtalbahn Neheim-Hüsten – Sundern vorgesehen.

Außerdem sollen, wie hier bereits in Auszügen erwähnt, Machbarkeitsstudien zu den Strecken(abschnitten) Sendenhorst – Beckum (– Lippstadt – Warstein) (Westfälische Landes-Eisen­bahn), Lemgo-Lüttfeld – Barntrup (Begatalbahn), Paderborn – Büren – Brilon (Almetalbahn) und Ibbenbüren – Lengerich (Lappwaldbahn, Nördliche Teutoburger Wald Eisenbahn) erstellt werden. Darüber hinaus sollen nach Planungen des NWL noch Folgeuntersuchungen für die Projekte (Osna­brück –) Recke – Rheine (Tecklenburger Nordbahn), Harsewinkel – Versmold und Verl – Hövelhof (Teutoburger Wald Eisenbahn), Minden – Hille und Halver – Oberbrügge (Schleifkottenbahn) in Auftrag gegeben sowie Hemer – Menden erneut untersucht werden.

Perspektivisch sollen weitere Nutzen-Kosten-Untersuchungen zu Bad Holzhausen – Bohmte (Verkehrsgesellschaft Landkreis Osnabrück) und Gronau – Bad Bentheim (technische Machbarkeitsuntersuchung liegt vor) folgen. Angedacht sind auch eine Neubaustrecke von Listerscheid (an der SPNV-Strecke Finnentrop – Attendorn) an die Güterbahn Krummenerl – Meinerzhagen (an der SPNV-Strecke Hagen – Köln) sowie eine Machbarkeitsstudie zur ehemaligen Verbindung Bocholt – Borken – Coesfeld mit aktualisierter Standardisierter Bewertung; eine Reaktivierung würde hier einen vollständigen Neubau erfordern, da die historische Trasse bis auf den Abschnitt Bocholt – Rhede entwidmet ist und in weiten Teilen veräußert wurde. Auch auf der Almetalbahn zwischen Paderborn und Büren fehlen die Gleise, gleichwohl ist die Trasse aber noch dem Eisenbahnverkehr gewidmet.

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Weiterführende Literatur/Quellen

  • Bezirksregierung Münster (2023): Westfälische Landes-Eisenbahn GmbH (WLE) – Reaktivierung der WLE-Strecke Sendenhorst-Münster. (https://www.bezreg-muenster.de/de/service/bekanntmachungen/ verfahren/planfeststellung_schiene/wle_reaktivierung/index.html)
  • büro stadtVerkehr Planungsgesellschaft mbH Co. & KG, im Auftrag von NWL Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (2020): MACHBARKEITSSTUDIE. Wiederinbetriebnahme der Schienenstrecke Bocholt – Borken – Coesfeld (– Münster). (https://www.nwl-info.de/fileadmin/NWL/Downloads/Informationen_fuer_Meinungsbildner/ Machbarkeitsstudie_Wiederinbetriebnahme/Studie_Strecke_Bocholt-Borken-Coesfeld_.pdf)
  • Geuckler, M. (2007): Die Eisenbahnverbindung zwischen Gronau und Enschede.
    (https://www.westfalen-regional.de/de/gronauenschede)
  • Hübschen, C. (2010a): Die Entwicklung des westfälischen Eisenbahnnetzes von 1885 bis 2009.
    (https://www.westfalen-regional.de/de/eisenbahnnetz_2009)
  • Hübschen, C. (2010b): Stilllegungen von Eisenbahnstrecken in Westfalen.
    (https://www.westfalen-regional.de/de/eisenbahn_stilllegungen)
  • Hübschen, C. (2010c): Bahnreform und Regionalisierung in Westfalen.
    (https://www.westfalen-regional.de/de/bahnreform)
  • Initiative Deutschlandtakt und Fahrgastverband PRO BAHN Nordrhein-Westfalen e.V. (o.J.): Das Projekt Reaktivierung der Almetalbahn. Bahnlinie Paderborn – Büren – Brilon. (https://almetalbahn-reaktivierung.de)
  • Initiative Haller Willem (o.J.): Zukunft für den Haller Willem. (http://www.hallo-willem.de/html/reaktivierung.html)
  • LokalPlus (2021): Schneller vom Kreis Olpe nach Köln: Studenten projektieren Bahnstrecke. Rhein-Südwestfalen-Express.
    (https://www.lokalplus.nrw/kreis-olpe/schneller-vom-kreis-olpe-nach-koeln-studenten-projektieren-bahnstrecke-55014)
  • LokalPlus (2022): Zugverbindung nach Köln: Geld für Machbarkeitsstudie bewilligt. Von Listerscheid über Meinerzhagen.
    (https://www.lokalplus.nrw/kreis-olpe/zugverbindung-nach-koeln-geld-fuer-machbarkeitsstudie-bewilligt-75336)
  • NWL Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (o.J.): Reaktivierungen im SPNV.
    (https://www.nwl-info.de/der-nwl/projekte/reaktivierungen.html)
  • NWL Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (o.J.): Von der TWE Reaktivierung zur Mobilitätsachse.
    (https://www.mobil-in-hgv.de/twe-reaktivierung
  • NWL Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (2017): Reaktivierung der Bahnstrecke Meinerzhagen - Lüdenscheid-Brügge schließt die Lücke im Netz. (https://www.nwl-info.de/presse/detail.html?tx_news_pi1%5Bnews%5D=43&cHash=c996886526d4f07c8101f24f8b7ab397)
  • NWL Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (2021): Positives Nutzen-Kosten-Verhältnis: Signale für Tecklenburger Nordbahn stehen auf Reaktivierung. (https://www.nwl-info.de/presse/detail.html?tx_news_pi1%5Bnews%5D=151&cHash=ec25fe4aabef4e480c3ceacee415a3d1)
  • Stadt Gronau (2022): Machbarkeitsstudie: Reaktivierung/Neubau einer Eisenbahnstrecke zwischen Bad Bentheim – Gronau. (https://www.gronau.de/rathaus/news/2022/news-maerz-2022/machbarkeitsstudie-reaktivierung-neubau-einer-eisenbahnstrecke-zwischen-bad-bentheim-gronau)
  • VDV Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (2022): Auf der Agenda: Reaktivierung von Eisenbahnstrecken. 3. Auflage. (https://www.vdv.de/vdv-reaktivierung-von-eisenbahnstrecken-2022-3.-auflage.pdfx)
  • VRR Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (o.J.): Reaktivierung der "Hertener Bahn" als Verlängerung der S 9.
    (https://www.vrr-investitionsprojekte.de/de/infrastruktur/spnv/hertener-bahn)
  • VRR Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (2019): Stillgelegte SPNV-Strecken aus dem Ruhestand holen.
    (https://www.vrr.de/de/magazin/stillgelegte-spnv-strecken-aus-dem-ruhestand-holen)

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Erstveröffentlichung 2023

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