Die Entwicklung des westfälischen Eisenbahnnetzes von 1885 bis 2009
Für einen raschen und unkomplizierten Netzausbau auch in den ländlichen Gebieten standen mit der "Bahnordnung für Bahnen untergeordneter Bedeutung" von 1878 und insbesondere mit dem 1892 verabschiedeten "Kleinbahngesetz" die gesetzlichen Grundlagen zur Verfügung. In der Tat entstanden in der Folgezeit die meisten Bahnbauten auf der Basis dieser beiden Gesetze, wobei allerdings räumliche Unterschiede und Schwerpunkte zu konstatieren sind.
Das hauptsächliche Merkmal des nun folgenden Netzausbaus war der Übergang von der linien- zur flächenhaften Erschließung, der durch den Wechsel vom privatwirtschaftlichen zum mehr unter sozialen und volkswirtschaftlichen Zielen geführten Bahnbau – im Sinne der Infrastrukturförderung – ermöglicht wurde. Insgesamt ergab sich in dem Zeitraum von 1885 bis 1920 in Westfalen fast eine Verdoppelung des Streckennetzes von etwa 2.200 km auf rund 4.200 km (darunter etwa 900 km Privatbahnen). In der Westfälischen Bucht und vor allem im Münsterland erfolgte der Ausbau vorwiegend durch normalspurige staatliche oder private Nebenbahnen, im südlichen Westfalen trugen neben den Staatsbahnstrecken zahlreiche schmalspurige Kleinbahnen zur Netzverdichtung bei.
Im Industriegebiet zwischen Ruhr und Emscher gingen in dieser Periode nur noch wenige Strecken, hauptsächlich kurze Umgehungs- und Verbindungsbahnen, in Betrieb. Größere Bedeutung erlangte die Strecke Oberhausen – Recklinghausen – Hamm, die als Umgehung des Reviers und als direkte Verbindung der beiden großen Rangierbahnhöfe Oberhausen-Osterfeld und Hamm entstand (in Hamm wurde der Rangierbahnhof bis Ende der 1920er Jahre zum größten und leistungsfähigsten Rangierbahnhof Europas ausgebaut). Im westlichen Münsterland folgten erst nach der Jahrhundertwende die Staatsbahnen von Empel-Rees über Coesfeld nach Münster sowie Rheine – Ochtrup; weitere Strecken wurden durch private Gesellschaften wie der Westfälischen Landeseisenbahn verwirklicht. Die Hauptabfuhrstrecke Wanne-Eickel – Münster – Osnabrück – Bremen und die Köln-Mindener Bahn (die zwischen Hamm und Minden viergleisig ausgebaut wurde) sowie die Hellwegbahn Hamm – Paderborn wurden untereinander mehrfach durch Staats- und Privatbahnbauten verknüpft. Im Minden-Ravensberger Raum entstand ein ausgedehntes Kleinbahnnetz. Während zwischen der Hellwegbahn und der Ruhrtalbahn insbesondere die privaten Ruhr-Lippe-Kleinbahnen und die Westfälische Landes-Eisenbahn aktiv waren, wurden im wirtschaftsschwachen und bevölkerungsarmen Gebiet südlich der Ruhr fast alle weiteren Strecken vom Staat gebaut. Lediglich im gewerbereichen Siegerland entstanden mehrere Strecken auf private Initiative hin, die die gewerbe- und bevölkerungsreichen Nebentäler erschlossen. So fand von 1881 bis 1914 eine deutliche Verdoppelung der Netzdichte von 9,60 km auf 19,19 km je 100 km2 statt; von den preußischen Provinzen wies im Jahr 1914 nur das Rheinland mit 21,17 km je 100 km2 ein etwas dichteres Eisenbahnnetz auf (Geißler 2004).
Im Ersten Weltkrieg wurden noch einige Strecken vollendet, ehe der Eisenbahnbau vollständig zum Erliegen kam. Ab Mitte der 1920er Jahre wurden durch die 1920 gegründete Deutsche Reichsbahn, in die auch die Preußischen Eisenbahnen übernommen wurden, wieder einige wenige Strecken gebaut. Hierzu zählten Münster – Lünen (– Dortmund), die Umgehungsbahn in Münster sowie Witten – Gevelsberg – Wuppertal-Barmen. Damit erreichte das westfälische Eisenbahnnetz seine größte Ausdehnung. Verantwortlich für das Ende des Netzausbaus war die beginnende Konkurrenz durch das Kraftfahrzeug, dessen bessere Einsatzmöglichkeiten in der flächenhaften Verkehrsbedienung gegenüber der Schiene vorwiegend in ländlichen Räumen deutlich zum Tragen kam.
Im Zweiten Weltkrieg wurden zwar strategische Verbindungskurven angelegt oder, wie in Altenbeken mit seinem gegenüber Bombenangriffen anfälligen Viadukt (der schließlich auch zerstört wurde), Umgehungsstrecken begonnen, die aber nicht mehr als Netzausbau bezeichnet werden können.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten zunächst der Wiederaufbau des Netzes und danach – für die 1949 gegründete Deutsche Bundesbahn – die Elektrifizierung der Hauptstrecken höchste Priorität. Neue Strecken wurden nur noch in Einzelfällen eröffnet, so 1968 die Verbindung Haltern – Gelsenkirchen-Buer oder ab den 1980er Jahren im Dreieck Dortmund – Bochum – Hagen Neu- und Umbauten für die S-Bahn bzw. den IC-Verkehr. Das letzte größere Bauvorhaben in Westfalen war 2003 die Neutrassierung eines 13 km langen Streckenabschnitts zwischen Warburg und Altenbeken einschließlich des Baus des fast 2.900 m langen Eggetunnels.
Gleichzeitig aber war die Zeit nach 1945 auch von zahlreichen Streckenstilllegungen und einem deutlichen Rückzug der Eisenbahn "aus der Fläche" geprägt, die in mehreren Wellen das westfälische Eisenbahnnetz wieder erheblich – auf heute (2009) etwa 3.000 km – schrumpfen ließ (s. Beitrag Hübschen).
Erst durch Bahnreform, Regionalisierung und Wettbewerb wurden ab 1996 neue Impulse ausgelöst, die das Bild der Eisenbahnen in Westfalen seitdem deutlich verändert haben (s. Beitrag Hübschen).
Weiterführende Literatur/Quellen
• | Ditt, H. und P. Schöller (1955): Die Entwicklung des Eisenbahnnetzes in Nordwestdeutschland. In: Westfälische Forschungen, Band 8. Münster, S. 150–180 | |
• | Gall, L. und M. Pohl (Hg.) (1999): Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München | |
• | Geißler, A. (2004): Nichtstaatlicher Bahnbau in Pommern und Westfalen 1880–1914. Regionale Schieneninfrastrukturpolitik in den preußischen Provinzen Pommern und Westfalen im Vergleich. Essen | |
• | Hübschen, Chr. (1999): Aufgegebene Eisenbahntrassen in Westfalen. Heutige Nutzung und Möglichkeiten neuer Inwertsetzung. Münster (= Siedlung und Landschaft in Westfalen, Band 26) | |
• | Klee, W. (1982): Preußische Eisenbahngeschichte. Stuttgart | |
• | Klee, W. (2001): Eisenbahnen in Westfalen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Münster | |
• | Kreft-Kettermann, H. (1988): Eisenbahnen – Netzentwicklung und Personenverkehr. In: Geographische Kommission für Westfalen (Hg.): Geographisch-landeskundlicher Atlas von Westfalen, 4. Lieferung. Münster | |
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Kretschmann, H. W. (1999): Die Ausweitung des Eisenbahnnetzes im Ruhrgebiet im frühen 20. Jahrhundert. |
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• | Stahr, G. (1995): Eisenbahnen in Preußen 1838–1920. Entwicklung des Streckennetzes. Berlin (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin. Reihe "Kartenwerk zur preußischen Geschichte", 4. Lieferung) | |
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Windelschmidt, S. und W. Klee (2005): Kleine Eisenbahngeschichte des Ruhrgebiets. Hövelhof |
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Ziegler, D. (1999): Nebenbahnen und Kleinbahnen in Westfalen. In: Reininghaus, W. und K. Teppe (Hg.): Verkehr und Region im 19. und 20. Jahrhundert. Westfälische Beispiele. Paderborn, S. 127–154 |
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www.lwl.org/LWL/Kultur/Westfalen_Regional/Verkehr/Bahnreform |
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www.lwl.org/LWL/Kultur/Westfalen_Regional/Verkehr/Eisenbahn_Stilllegungen |
Erstveröffentlichung 2009, Aktualisierung 2010