Die Entwicklung der Gemeinde Saerbeck seit der kommunalen Gebietsreform von 1975

01.01.2007 Bruno Lievenbrück

Inhalt

Die kommunale Gebietsreform von 1975 brachte 83% aller Kommunen im Land Nordrhein-Westfalen den Verlust ihrer Selbstständigkeit. Betroffen waren insbesondere Gemeinden im ländlichen Raum. Saerbeck konnte seine Selbstständigkeit erhalten, war jedoch nach Inkrafttreten der Gebietsreform mit 3908 Einwohnern die kleinste selbstständige Gemeinde Nordrhein-Westfalens und entsprach damals nur in Ansätzen den im Landesentwicklungsplan ausgewiesenen Kriterien eines Unterzentrums. In den folgenden drei Jahrzehnten durchlief die Gemeinde jedoch eine bemerkenswerte Entwicklung, zu der über die enormen eigenen Anstrengungen hinaus auch Unterstützung von außen maßgeblich beitrug, so zum Beispiel durch die Flurbereinigung.

Abb. 1: Saerbeck 1955 (Foto: Gemeindearchiv Saerbeck)

Verbesserung der dörflichen Infrastruktur durch Maßnahmen der Flurbereinigung

Das Flurbereinigungsverfahren für Saerbeck wurde 1971 auf der Grundlage des rein ökonomisch ausgerichteten Flurbereinigungsgesetzes von 1953 eingeleitet. Ein neues, 1976 verabschiedetes Flurbereinigungsgesetz trug der ökologischen Bewegung und den veränderten Vorstellungen von Landesentwicklung Rechnung. Flurbereinigung sollte nun über die Verbesserung der Produktions- und Arbeitsverhältnisse in der Land- und Forstwirtschaft hinaus die Wohn-, Wirtschafts- und Erholungsfunktionen insbesondere des ländlichen Raumes verbessern. In Saerbeck waren bis 1976 lediglich die Ermittlung der Beteiligten sowie die Wertermittlung erfolgt. Da mithin noch keine Veränderungen vorgenommen worden waren, konnte das Flurbereinigungsverfahren nach dem novellierten Gesetz weitergeführt und erstmals beispielhaft unter ökologischen Aspekten sowie unter dem Aspekt der nachhaltigen Verbesserung der dörflichen Infrastruktur abgewickelt werden. Wesentliche Voraussetzungen dafür waren vor allem die Flächenbereitstellungen für den Bau der Ortsumgehung der B 219, für die Erneuerung der Ortslage durch die Aussiedlung landwirtschaftlicher Betriebe, für die Ausweitung der Industrie- und Gewerbegebiete sowie für die Abrundung der Ortslage durch neue Wohngebiete.
Abb. 2: Saerbeck 2005 (Foto: C. Strack)
Die Gemeinde konnte nun wichtige kommunale Vorhaben in Angriff nehmen, nachdem vier landwirtschaftliche Betriebe aus dem Zentrum Saerbecks ausgesiedelt worden waren und im Kernbereich zwei weitere Betriebe ihre Landwirtschaft aufgegeben hatten. Sie erwarb die zentral gelegene Hofstelle eines Aussiedlers mitsamt Gebäuden und hofnahen Flächen. Das Haupthaus sowie die freistehende Scheune waren gut erhaltene Fachwerkbauten aus dem 19. Jh.. Mit Hilfe eines vom Land aufgelegten Bürgerhaus-Programms wurde das Haupthaus renoviert; den Umbau der Scheune übernahm ein Bürgerhausverein. Mit dem Bürgerhaus und der Bürgerscheune stehen der Gemeinde heute großzügige Stätten für Begegnungen, Freizeit und Bildung zur Verfügung.

Sicherung und Ausweitung des Bildungsangebotes durch die Errichtung einer neuen Schulform

Im Schuljahr 1968/69 hatte die Gemeinde die Trennung der Volksschule in eine Grund- und Hauptschule vorgenommen. Die Einrichtung einer Hauptschule war jedoch nur unter Vorbehalt genehmigt worden, da die Gemeinde zum Zeitpunkt der Errichtung dieser Schulform im Landesentwicklungsplan noch nicht als Unterzentrum ausgewiesen war. Erst im Jahre 1979 erteilte die Bezirksregierung die endgültige Genehmigung. Noch im gleichen Jahr beschloss die Gemeinde einen großzügigen und hervorragend ausgestatteten Erweiterungsbau in der Absicht, dadurch die Attraktivität der Schule vor Ort zu erhöhen.

Doch bereits bei der Übergabe des neuen Schulgebäudes zeichnete sich ein dramatischer Rückgang der Schülerzahlen ab, so dass mittelfristig eine Schließung aus schulorganisatorischen Gründen zu befürchten war.

Gespräche mit der Landesregierung sollten deshalb die Chancen für den Erhalt einer weiterführenden Schule vor Ort ausloten. Die Sondierungen ergaben, dass nur über die Gründung einer neuen Schulform der Erhalt des Schulstandortes zu erreichen war.

So beschloss der Rat der Gemeinde Saerbeck am 10.12.1987 die Gründung einer Gesamtschule. Diese Absicht stieß beim Regierungspräsidenten Münster auf erheblichen Widerstand. Er sah in der Errichtung einer vierzügigen Schule der Sekundarstufe I mit einer zwei- bis dreizügigen Gymnasialen Oberstufe in einem Grundzentrum einen Verstoß gegen das Zentralitätsprinzip, da diese Schule auf Schülereinpendler aus den umliegenden Mittelzentren angewiesen war. Durch ein überwältigendes Votum im Anmeldeverfahren kam diese Schule schließlich gegen den Widerstand der Bezirksregierung zustande. Die Existenz einer Schule, die alle Schulabschlüsse bis zum Abitur vorhalten konnte, erwies sich in der Folgezeit als bedeutsamer Standortvorteil.

Von der Flugabwehrstellung zum Gewerbegebiet

Während des Zweiten Weltkrieges wurde zum Schutz des Dortmund-Ems-Kanals auf dem Gebiet der Gemeinde Saerbeck eine Flugabwehrstellung errichtet. Nach Kriegsende fiel dieses Gebiet mit einer noch intakten Infrastruktur als Gewerbefläche an die Gemeinde Saerbeck. In den ehemaligen Unterkunftsbaracken siedelte sich eine Tonmöbelfabrik an, die mit fast 200 Beschäftigten lange Zeit größter Arbeitgeber am Ort war. Nach deren Insolvenz stagnierte die Entwicklung, bis die Gemeinde durch die Erstellung neuer Bebauungspläne das Gewerbegebiet um die doppelte Fläche erweiterte.

In den Jahren von 1996 bis zum Jahr 2005 entstanden hier über 600 sozialpflichtige Arbeitsplätze. Der mit 260 Beschäftigten größte Arbeitgeber vor Ort ist derzeit die weltweit expandierende Firma SAERTEX. Sie ist aus der Textilindustrie hervorgegangen und fertigt "Verstärkungstextilien", die unter anderem im Flugzeugbau, Schiffsbau und bei Windkraftanlagen Verwendung finden. Als weiteres bedeutendes Unternehmen ließ sich hier eines der führenden europäischen Systemhäuser nieder, das sich insbesondere auf Software für den Maschinenbau spezialisiert hat.

Der Gemeinde gelang es auch, eine größere behördliche Einrichtung für eine Ansiedlung in Saerbeck zu gewinnen. Sie beherbergt als "Grünes Zentrum" die Landwirtschaftliche Buchstelle Münster, den Landwirtschaftlichen Betriebsdienst, den Landwirtschaftlichen Kreisverband sowie die Kreisstelle Steinfurt der Landwirtschaftskammer Steinfurt.

Ortsmitte Saerbeck – Ein Projekt der Regionale 2004

Im Jahre 1971 entwarf die Landesentwicklungsgesellschaft einen "Stadtentwicklungsplan" für Saerbeck, nach dem sämtliche Gebäude der Ortsmitte abgerissen und durch zwei- bis dreigeschossige Bauten ersetzt werden sollten. Ein Jahrzehnt später, nachdem erst zwei Gebäude nach dieser Vorgabe errichtet worden waren, trat ein grundsätzlicher Sinneswandel ein: Saerbeck sollte Dorf bleiben. Ein erster Schritt in diese Richtung war bereits mit der Errichtung des Bürgerzentrums getan worden.
Tab. 1: Ausgewählte Dienstleistungseinrichtungen in Saerbeck 1975 und 2005 (Quelle: Gemeinde Saerbeck)

Im Jahre 2000 erwarb die Gemeinde in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bürgerhaus die Hofstelle des vermutlich ältesten Hofes Saerbecks und baute das unter Denkmalschutz stehende Hofgebäude zu einem modernen Verwaltungsgebäude um. Auf dem ehemaligen Hofgelände entstanden zusätzlich ein Sparkassengebäude sowie ein Ärztezentrum mit Apotheke und physiotherapeutischer Praxis. Fast gleichzeitig siedelten sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bürgerhaus drei Discounter an. Innerhalb weniger Jahre war so außerhalb des Ortskernes ein Dienstleistungsbereich entstanden, der von der alten Ortsmitte durch die ungenutzte und unbebaute Bachaue des Mühlenbaches getrennt wurde.

Diese Zweiteilung des Ortszentrums sollte durch eine umfassende städtebauliche Sanierungsmaßnahme überwunden werden. Dazu ließ die Gemeinde zunächst einen Rahmenplan erstellen, um dann im Jahre 2002 einen städtebaulichen Wettbewerb zur Realisierung dieses Vorhabens durchzuführen. Den preisgekrönten Entwurf "Ortsmitte Saerbeck" legte die Gemeinde als ihren Beitrag zur Regionale 2004 vor, einer Initiative der Landesregierung, die dem östlichen Münsterland mit den Kreisen Warendorf, Steinfurt und der Stadt Münster wichtige Strukturimpulse geben sollte (s. Beitrag Wolters). Die Maßnahme "Ortsmitte Saerbeck" wurde in die Projektliste "Stadterneuerungsprogramm 2003" als Förderprojekt aufgenommen. Die Kosten von 1,5 Mio. Euro wurden aus diesem Fond mit 70% gefördert.

Der Saerbecker Mühlenbach mit seinen begleitenden Freiräumen ist nun ein prägendes Element im Zentrum Saerbecks, das den relativ dichten Kern um die Kirche mit dem neuen Dienstleistungszentrum rund um das neue Rathaus zu einem neuen Ortszentrum Saerbeck verbindet. Mit der Verdichtung des Ortskerns verlief gleichzeitig eine Qualitätssteigerung insbesondere auf dem Dienstleistungssektor, dessen Ausmaß anhand einer Gegenüberstellung ausgewählter Dienstleistungsbereiche deutlich wird (Tab. 1).

Ein Vergleich der Abbn. 1 und 2 und die Auswertung der Gegenüberstellung belegen eindrucksvoll die Entwicklung der Gemeinde Saerbeck seit der Gebietsreform von 1975. Die einst kleinste selbstständige Gemeinde in Nordrhein-Westfalen hat sich in drei Jahrzehnten zu einem Grundzentrum entwickelt, das nicht nur uneingeschränkt die Grundversorgung und den kurzfristigen sowie einen Teil des periodischen Bedarfs der Einwohner deckt, sondern darüber hinaus im Dienstleistungsbereich auch Angebote des gehobenen Bedarfs vorhält. Aufgrund europa- und weltweit agierender Unternehmen und der weltumspannenden Bedeutung der technischen Textilien aus Saerbeck darf man insgesamt resümieren: Von der kleinsten selbstständigen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen zum vollwertigen Grundzentrum mit überregionaler Bedeutung.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007