Neubürger in der westfälischen Fauna

01.01.2007 Reiner Feldmann

Kategorie: Naturraum

Schlagworte: Westfalen · Fauna · Neozoon

Die Verbreitungsgebiete der Tierarten sind nicht konstant. Ihre Ausdehnung und ihr Grenzverlauf verändern sich, und das hat Auswirkungen auf den Artenbestand einer regionalen Fauna, auf die Artenzahl und auf die Artenvielfalt. Dynamik ist ein Wesensmerkmal aller Lebensäußerungen. Überall dort, wo der Mensch als überlegener Partner der frei lebenden Organismen die Hand im Spiel hat - und das ist in allen Ökosystemen unserer Kulturlandschaft der Fall -, wird dieser Wandel über das natürliche Maß hinaus noch beschleunigt und verstärkt.

In der Öffentlichkeit finden vor allem der Rückgang und das Verschwinden einer Art Beachtung. Diesem Vorgang liegen die Rückverlegung einer Arealgrenze und die Schrumpfung des entsprechenden Verbreitungsgebietes zugrunde. In der Artenbilanz einer Region ist das als Verlust zu buchen. Auf der positiven Seite dieser Bilanz stehen demgegenüber expandierende Arten, die im Verlauf einer Arealerweiterung bisher unbesiedelte Räume erreichen. Gleichfalls als quantitativer Zugewinn ist zu verbuchen, wenn der Mensch - geplant oder auch unbeabsichtigt - gebietsfremde Tierarten einführt, denen es gelingt, sich dauerhaft anzusiedeln.

Um diese beiden letztgenannten Fallgruppen geht es hier. Sie sind grundverschieden und sollten daher auch begrifflich klar getrennt werden. Zur Verdeutlichung seien vorweg Beispiele von Brutvögeln genannt, die in den letzten Jahrzehnten in Westfalen dauerhaft ansässig geworden sind: Girlitz (in Westfalen seit 1886), Tafelente (1933), Wacholderdrossel (1944), Türkentaube (1947), Reiherente (1963), Birkenzeisig (1975), Beutelmeise (1983). Diese Arten haben auf natürliche Weise ihr Areal ausgeweitet und sich ohne erkennbares Hinzutun des Menschen aus eigener Kraft in unserem Raum angesiedelt. Sie werden im folgenden als "Einwanderer" bezeichnet.
Abb. 1: Wespenspinne (weibl.) im Netz (Foto: R. Feldmann)
Im Ergebnis mit gleichem Erfolg, aber unter der aktiven Mitwirkung des Menschen eingeführt und vielfach aus fernen Ländern und fremden Kontinenten stammend, sind folgende Säugetiere zu festen Gliedern der mitteleuropäischen Fauna geworden: Bisam (seit 1905) und Waschbär (seit den 1930er Jahren), beide aus Nordamerika stammend, schließlich der Marderhund, aus Ostasien und seit 1928 in der ehemaligen Sowjetunion ausgesetzt, seither nach Westeuropa sich ausbreitend und auch in Westfalen bereits nachgewiesen. Als Bezeichnung für diese Arten (unter Einschluss eingeschleppter unerwünschter Species, z. B. Kartoffelkäfer, Reblaus) hat man den Begriff "Neozoa" (Neozoen) gewählt. Es handelt sich dabei keineswegs um "neue" Tiere, sondern lediglich um Neubürger eines bestimmten Faunengebietes, das ihnen zuvor nicht zugänglich war und in das sie (so besagt es die zur Zeit verbindliche Definition) "unter direkter oder indirekter Mitwirkung des Menschen  …seit Beginn der Neuzeit (1492)" gelangt sind (Kitzelbach 1996). Im englischen Sprachgebrauch wird als umfassende Bezeichnung für alle Neubürger ohne Unterscheidung natürlicher und anthropogen begünstigter Einwanderung der Begriff "invasive species" (invasive Arten) verwendet, wobei eine deutliche Betonung auf problematische Species gelegt wird, die, tatsächlich oder auch nur potenziell, altheimische Arten verdrängen.

Auch gegenwärtig vollzieht sich die Ansiedlung von Neubürgern aus beiden Gruppen in Westfalen. Einige besonders markante Beispiele seien hier vorgestellt.

Die Wespenspinne, Argiope bruennichi, ist eine der größten europäischen Radnetzspinnen (Abb. 1). In Deutschland beschränkte sich ihr Vorkommen bis 1900 auf einen isolierten Bereich in Brandenburg sowie auf das Rhein-Main-Gebiet und den Oberrheingraben, hier mit Anschluss an das südeuropäische Hauptareal. Seit der Mitte der 1930er Jahre, verstärkt seit den 80er Jahren, breitete sich die wärmeliebende Art nach Norden aus und erreichte Westfalen über das Wesertal (1976 Bad Driburg, 1988 Willebadessen) und über die Rheinschiene. Inzwischen sind weite Bereiche von sich selbst erhaltenden Populationen besiedelt. Die Wespenspinne hat sich als ein ausgeprägter Kulturfolger erwiesen, der frühe Sukzessionsstadien von Industriebrachen und Extensivgrünland als Lebensraum bevorzugt. Die Ausbreitung erfolgt durch Jungtiere, die nach dem Schlüpfen mit Hilfe selbstproduzierter Fadenflöße durch Luftströmungen über weite Strecken verdriftet werden können ("ballooning").
Abb. 2: Rosskastanien-Miniermotte (Foto: J. Deckert)

Die Rosskastanien-Miniermotte, Cameraria ohridella, wurde erst 1985 in Mazedonien entdeckt (Abb. 2). Bereits 1989 wurde sie in Österreich, 1993 in Deutschland nachgewiesen. In einem beispiellos rasch verlaufenden Expansionsprozess eroberte der winzige Falter das gesamte Mitteleuropa. 1998 wurden im Sauerland erste befallene Kastanienbäume registriert, schon im Jahr 2000 kam es zum Massenbefall, und seither beschäftigt der Parasit das öffentliche Interesse, denn  das Schadbild (Miniergänge der Raupen) und  der vorzeitige Laubfall schon im Juli sind unübersehbar. Als einzige Abhilfe gilt z. Zt. die Laubbeseitigung im Herbst.

Als weitere Beispiele spontaner Einwanderer seien hier genannt: die schwarzrote Streifenwanze, Graphosoma lineata, die Gallische Feldwespe, Polistes dominula, sowie ein echter Weinbergbewohner, die Bodenwanze Horvathiolus superbus. Es handelt sich dabei um thermophile Tierarten, die, so vermuten wir, in der Folge der Wärmejahre der letzten zweieinhalb Jahrzehnte bei uns erschienen sind (Bußmann & Feldmann 2001).

Unter den Neozoen findet besonders die Rhododendron-Zikade, Graphocephala fennahi, Beachtung, weil sie inzwischen auf nahezu allen Friedhöfen, in Parks und größeren Gärten auf Rhododendren lebt (Abb. 3). Sie stammt aus Nordamerika, wurde 1930 nach England eingeschleppt und tauchte 1978 erstmals am Niederrhein und schon 1983 im Rombergpark in Dortmund auf. Sie zapft die Saftleitungen ihrer Wirtpflanzen an, ohne die Sträucher erkennbar zu schädigen. Die gefürchtete Knospenfäule geht auf eine Pilzinfektion zurück, die aber möglicherweise durch den Zikadenstich begünstigt wird.

Abb. 3: Rhododendron-Zikade (Foto: R. Feldmann)

Die Neuseeländische Deckelschnecke, Potamopyrgus antipodarum, stammt von der Südhalbkugel der Erde und wurde im Ballastwasser von Schiffen nach Europa transportiert (1839 Themse, 1908 Weser, 1916 Dortmund-Ems-Kanal). Inzwischen sind die meisten Gewässer in der planaren Stufe Westfalens besiedelt, vielfach in recht individuenreichen Populationen. Erst im letzten Jahrzehnt, nach einer Zeit offensichtlichen Stillstands der Ausbreitung, beginnt die Besiedlung auch des Berglandes unter Einschluss der Talsperren (Feldmann 2004); sie ist gegenwärtig noch nicht abgeschlossen.

Weitere aktuelle Beispiele für Neozoen finden sich in unserer Avifauna vor allem bei Gänsen: Kanadagans (Branta canadensis) und Nilgans (Alopochen aegyptiacus), inzwischen auch die Rostgans (Tadorna ferruginea), alle wohl ursprünglich auf Gefangenschaftsflüchtlinge oder ausgesetzte Tiere zurückgehend, haben sich in weiten Teilen Westfalens etabliert. Halsbandsittiche (Psittacula krameri) allerdings, die in Köln und Düsseldorf Kolonien von mehreren hundert Tieren gebildet haben, sind in Westfalen bislang erst vereinzelt als Brutvögel nachgewiesen worden, so 1985 in Hamm.

Auch erfolgreiche Rückwanderer sind letztlich Neubürger. Unter den Arten, die in historischer Zeit im Lande ausgerottet wurden, in jüngster Zeit aber zurückkehrten, sind drei bemerkenswerte Großvögel: der Uhu, Bubo bubo, seit 1909 in Westfalen verschwunden, aber nach Aussetzungen seit 1974 wieder eingebürgert und seither selbständig vor allem im Bergland sich ausbreitend; der Schwarzstorch, Ciconia nigra, seit 1910 nicht mehr vertreten, dann aber aus eigener Kraft im Zuge einer westwärts gerichteten Expansion zurückgekehrt und seit 1978 im Sauerland in steigender Anzahl brütend, und schließlich der Kolkrabe, Corvus corax, seit 1912 fehlend, seit den 1990er Jahren aber wieder als Brutvogel vor allem im Sauerland und Weserbergland in Erscheinung tretend. Hoffen wir, dass eine ähnlich glückliche Re-Immigration auch den ausgerotteten Säugetieren gelingt: Biber, Wildkatze (s. Beitrag Hörmeyer) und Luchs.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007