Die Milchwirtschaft in Westfalen

01.01.2010 Peter Wittkampf

"Rindviehzucht ansehnlich" hieß es über die Provinz Westfalen in einem Geographiebuch von 1903 (E. v. Seydlitz (1903): Kleines Lehrbuch der Geographie. Breslau (Hirt), S. 272).

Hundert Jahre später, im Jahre 2003, hat Westfalen 950.992 Rinder, darunter 218.530 Milchkühe (Rheinland: 467.820/173.077).
Abb. 1: Hofeinfahrt eines Milcherzeugers in Telgte, Sommer 2007 (Foto: P. Wittkampf)

Und nicht nur in Bezug auf die größere Anzahl der Milchkühe hat Westfalen gegenüber dem Rheinland die Nase vorn. Auch die Milchleistung erreicht ansehnliche Werte. Dies gilt sowohl im nationalen und internationalen Maßstab als auch im Vergleich mit dem Rheinland. Mit einem gewissen Regionalstolz meldeten die Westfälischen Nachrichten am 4.1.2006 unter der Überschrift "Westfalens Kühe sind fleißig": "Die westfälischen Kühe sind fleißiger als ihre Artgenossen im Rheinland. Das hat der Landeskontrollverband NRW gestern mitgeteilt. So gab eine westfälische Kuh im vergangenen Jahr fast 200 Liter mehr Milch als eine rheinische. (...)"

Andererseits weiß man spätestens seit den Bauernprotesten gegen den niedrigen Milchpreis (Abb. 1), dass die Milcherzeuger oft trotz der Subventionen wegen der hohen Kosten für Futtermittel, Energie, Maschinen und Personal kaum Gewinne erwirtschaften. Ist also Westfalen "ein Land, wo Milch und Honig fließen" - oder hat man mit Milchkühen "aufs falsche Pferd gesetzt"?

Abb. 2: Jahresmilcherzeugnis je Kuh in NRW 1970–2008 (Quelle: LDS NRW)

Tatsache ist, dass in Westfalen - ebenso wie fast überall - seit Jahren ein sehr deutlicher Konzentrationsprozess im Bereich der Milchwirtschaft zu beobachten ist. Ohne erheblichen finanziellen Aufwand z. B. für teure Anschaffungen an Melk- und Kühleinrichtungen, Stallerweiterungen und -modernisierungen, Futtermittelversorgung, Silo- und Gülleanlagen usw., oftmals auch durch staatliche Vorschriften "erzwungen", konnten viele im Bereich der Milchwirtschaft tätige Landwirte nicht überleben. Hinzu kommen z. B. die EU-Milchquotenregelungen, die Senkung der EU-Interventionspreise, die Beschränkung der Investitionsförderungen auf einen Viehbesatz von maximal 2 bis 2,5 Großvieheinheiten pro ha sowie der Arbeits- und Zeitaufwand, der in kaum einem Landwirtschaftsbetrieb so intensiv ist wie bei einem Milcherzeuger. Kühe müssen nun einmal täglich versorgt und zweimal gemolken werden. "Eine Kuh mach Muh - viele Kühe machen Mühe" sagt ein bekanntes Sprichwort treffend. Viele Milchbauern gaben daher auf. Sowohl die Zahl der Milchviehbetriebe als auch die der Milchkühe ging deutlich zurück. Im Durchschnitt halbierte sich die Zahl der Milchviehhalter etwa alle 10 Jahre. Der Rückgang hält an: Allein von 2005 bis 2006 reduzierte sich die Zahl der westfälischen Milchkühe von 212.485 auf 202.030 Tiere. Das bedeutet ein Minus von fast 5%. Im Jahre 2007 gab es in Westfalen noch 5.540 Milchviehbetriebe, in denen im Durchschnitt 38 Kühe gemolken wurden.

Die strukturellen Herausforderungen treffen - mangels Produktionsalternativen - vor allem die Teilregionen und Landkreise, die traditionell als typische "Grünlandstandorte" gelten. Dies sind vor allem Gebiete im Sauerland, Siegerland, Kreis Höxter und dem Märkischen Kreis. Im Weserbergland herrscht allerdings prinzipiell eine relativ große Nachfrage nach Siedlungsflächen. Dort haben die Milchviehhalter Verkaufserlöse aus Flächenverkäufen häufig für betriebliche Investitionen verwendet.

Abb. 3: Haupttor der Humana Milchunion e. G. in Everswinkel (Foto: P. Wittkampf)

Auch der Kreis Borken weist eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Milchkühen je Fläche auf.

Dank der Züchtungserfolge, einer stetigen Verbesserung der Futtermittel usw. konnte die durchschnittliche Milchleistung pro Kuh in Westfalen, wie auch anderswo, in den letzten Jahrzehnten deutlich gesteigert werden (Abb. 2). In Nordrhein-Westfalen gaben die Kühe im Jahre 1980 im Durchschnitt 13,2 kg Milch pro Tag, im Jahre 2006 waren es 20,2 kg (ein Liter Milch entspricht ca. 1,03 kg). In Westfalen hatten 2006 die Kühe in Bottrop, Gelsenkirchen und dem Kreis Recklinghausen die höchste Milchleistung (23,1 kg/Tag), die "geringste" wies der Ennepe-Ruhr-Kreis (zusammen mit der Stadt Hagen) auf (15,7 kg/Tag).

Fast 97% der erzeugten Milch wird in Westfalen an die Molkereien geliefert, der Rest wird entweder direkt an Endverbraucher verkauft oder auf den Höfen selbst verfüttert.

Abb. 4: Einfuhr-, Erzeuger- und Verbraucherpreisindex (100 = Preisniveau Jan. 2004) (Quelle: Statistisches Bundesamt BR Deutschland 2007)

Der Plural "Molkereien" darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in der Milchverarbeitung der Konzentrationsprozess zu einem massiven Rückgang der früher zahlreichen Molkereien geführt hat. Abgesehen von einigen wenigen "kleinen" Molkereien (vorwiegend im Münsterland) dominiert den Raum Westfalen - und nicht nur den - eigentlich nur der Branchenriese Humana (Abb. 3). Etliche Übernahmen haben die Humana Milchunion zum zweitgrößten Molkerei-Unternehmen Deutschlands werden lassen. Über 6.000 Milcherzeuger liefern ihre Milch an die Betriebsstandorte von Humana. Die Unternehmensgruppe, die ihren Hauptsitz in Everswinkel hat, verfügt in Deutschland über 14 Betriebsstandorte mit zusammen mehr als 3.200 Mitarbeitern und besitzt darüber hinaus etliche Auslands-Tochtergesellschaften. Dies macht deutlich, dass auch die westfälische Milchwirtschaft längst zu einem Wirtschaftszweig wurde, der eng mit den nationalen und internationalen Märkten verflochten ist.

Abb. 5: Milcherzeugerpreise 2007/2008 (3,7% Fett, 3,4% Eiweiss) (Quelle: ZMP 2008)

Der Milchauszahlungspreis, den Humana an die Erzeuger zahlte, betrug in den Jahren 2005 und 2006 etwas mehr als 27 Cent, 2 Cent weniger als 2003 (vgl. Tab. 1). 2007 kam es zu Protestaktionen der Milcherzeuger, da sie angesichts von Kostensteigerungen, z. B. bei Futtermitteln, kaum noch kostendeckend wirtschaften konnten. Auf vielen Plakaten forderten sie im Sommer 2007 einen Milch-Abgabepreis von 40 Cent (Abb. 1). Gleichzeitig stieg auf dem Weltmarkt die Nachfrage nach Milch und Butter. Die Lagerbestände waren aufgebraucht, sodass auch die Weltmarktpreise stark anstiegen. Für die Endverbraucher lagen die Preise für Milchprodukte im Oktober 2007 um knapp 30% höher als im Oktober 2006.

Parallel dazu stieg dann auch der Milchauszahlungspreis für die Erzeuger im 2. Halbjahr 2007 von gut 30 Cent (Juli) tatsächlich auf über 40 Cent (Dez.) an (Abb. 5). 2009 hat sich die Lage der Milcherzeuger wieder deutlich verschlechtert. Die Milchauszahlungspreise der Molkereien fielen im Sommer 2009 auf 22 Cent je Liter und lagen damit um 40% niedriger als vor den Bauernprotesten. Grund hierfür ist die gesunkene Nachfrage, insbesondere der Menschen in den Schwellenländern, die seit der Wirtschaftskrise weniger Milchprodukte kaufen. Der Unmut der Bauern gipfelte im September 2009 in einem Lieferboykott und führte zu Vernichtungsaktionen. Seither hat sich der Milchpreis etwas erholt, ein Nachfrageanstieg auf Verbraucherseite und steigende Exportraten lassen eine positive Marktentwicklung erwarten.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2008, Aktualisierung 2010