Tourismus fördern zwischen Lippe und Emscher

01.01.2007 Sven Ahrens

Der Kreis Recklinghausen besteht aus den zehn Städten Castrop-Rauxel, Datteln, Dorsten, Gladbeck, Haltern am See, Herten, Marl, Oer-Erkenschwick, Recklinghausen (122000 Einw., größte Stadt) und Waltrop (30100 Einw., kleinste). Er ist der bevölkerungsreichste Kreis Deutschlands (648000 Einw.) mit einer sehr hohen Einwohnerdichte von 852 Einw./km2. Er bildet den Nordrand des Ruhrgebiets mit Übergang vom Ballungskern zum Ballungsrand. Touristische Potenziale werden im vermeintlich städtisch und industriell vollständig überprägten Raum mit rauchenden Industrieschloten, verstopften Verkehrswegen und grauen Siedlungen kaum erwartet. Ist Tourismus und dessen Förderung hier wirklich erfolgversprechend? Das oft noch persistente Bild kann schon im Südteil des Kreises nicht erfüllt werden. Im Norden dominieren im Naturpark Hohe Mark und ausgedehnten Waldgebiet der Haard sogar weitläufige Naturlandschaft und ländliche Charakteristika. 39% der gesamten Kreisfläche sind landwirtschaftlich genutzt; der Waldanteil ist mit 26% fast doppelt so hoch wie im Münsterland. Prägend sind zudem die Flüsse (Lippe, Emscher), Kanäle (u.a. Wesel-Datteln, Dortmund-Ems) und Stauseen, aber auch Bergehalden (höchste: Hoheward 152 m ü.NN) und einzelne Fördertürme.

Im Kreisgebiet existieren in mehreren Themenfeldern touristisch nutzbare Angebote: Radfahren, Reiten, Wandern, Direktvermarktung, Wasser, Events/Entertainment (z.B. Freizeit-, Themenparks) sowie Industriekultur. Für eine Marktetablierung müssen touristische Produktlinien mit ausreichender Attraktivität, klaren Zielgruppen, kritischer Nachfragemasse und Angebotsvielfalt im Segment definiert sowie nicht primär mit einer übergeordneten Destination verbunden werden (vgl. MSP 2005, S. 13f.). Produktlinien des Kreises sind daher die natur- und landschaftsbezogenen Kernthemen Reiten, Radfahren und Wandern (Abbn. 1 - 3). Sie werden ergänzt um die zusammenfassende und zielgruppenorientierte Produktlinie "Familien mit Kindern".
Abb. 1: Radfahren am Kanal (Foto: Bugdoll, Kr. Recklinghausen)

Das Angebot für Radreisende umfasst im Kern:

► rd. 900 km ausgeschilderte Radfahrwege,
► enges Wabennetz innerhalb des landesweiten Radwegenetzes,
► als "fahrradfreundlich" anerkannter Kreis und Städte,
► 15 Themenrouten (u.a. Kohle, Kultur, Wasser und Landschaft),
► vergleichsweise flache, radfahrfreundliche Topographie,
► hohe landschaftliche Attraktivität im Norden (Haard, Hohe Mark, Gewässer),
► spezielle Angebote für Mountainbiker (Halden),
► umfassendes Informationsmaterial (Radtourenflyer, Broschüren) und flächendeckend aktuelle Radfahrkarten.

Das Angebot ist vielfältig und ideal für Tagesradreisen. Fluss- und Teile von Fernradwanderwegen, die sich allgemein besonderer Beliebtheit erfreuen, verlaufen z.B. als Römerroute entlang der Lippe. In der Planung befinden sich weitere Themen- und flussbegleitende Routen.

Abb. 2: Reiten im Wald (Foto: Uhlenbrock, Kr. Recklinghausen)

Das Basisangebot für Pferd und Reiter besteht aus:

► rd. 180 km ausgewiesene Reitwege,
► besonders dichtes Wegenetz in landschaftlich attraktiver Haard und Hohe Mark,
► gute pferdespezifische Infrastruktur (z.B. Raststationen, Tierärzte) und Anlagen (insb. Reiterhöfe),
► nahtloser Anschluss an die "Pferderegion Münsterland",
► umfassendes Informationsmaterial (Tourentipps), flächendeckend aktuelle Reitwegekarten und Reitroutenplaner.

Das Reitwegenetz ist dicht, hochwertig und überregional für Freizeit- und Wanderreiter attraktiv. Die Angebote bieten bereits sehr gute Möglichkeiten zur Bewerbung erweiterter Tagesaufenthalte und sind bei erlebnisorientierter Weiterentwicklung zur Etablierung im Kurzreisesegment gut geeignet.

Abb. 3: Wandern auf der Heide (Foto: Leschny, Kr. Recklinghausen)

Die Angebote für Wanderer umfassen u.a.:

► 17 gezeichnete Hauptwanderwege (X-Wege) mit rd. 410 km,
► drei gezeichnete Bezirkswanderwege mit 32 km,
► ca. 120 Orts- und Rundwanderwege mit gut 560 km,
► rd. 70 Wanderparkplätze für Pkw mit Infotafeln und Sitzmöbeln,
► guter Zugang durch Infoblätter, Naturparkführer, Freizeit- und Wanderkarten.

Die vorhandene Wanderinfrastruktur mit über 1000 km Wegen konzentriert sich räumlich auf die Haard und Hohe Mark und ist in diesem nördlichen Teilraum besonders attraktiv. Gerade die zahlreichen bis 2006 vom Kreis gebauten oder erneuerten Wanderparkplätze bieten für Wanderer ebenso wie für Reiter und Radfahrer ideale Eintiegs- und Umstiegspunkte. Ein sog. Wanderparkplatzführer offeriert diese Möglichkeiten.

Der Kreis Recklinghausen hat mit den drei o.g. Hauptproduktlinien - ergänzt um die Industriekultur und andere übergeordnete Themen - eigenes touristisches Potenzial. Er ist aber keine Destination, denn insb. der Umfang des touristischen Angebots und die überregional erzielbare Wahrnehmung sind zu gering. Geeignet sind die Angebote für die Bündelung und Präsentation der zehn Städte als Feriengebiet für Kurzurlauber und als Freizeitregion für Wochenend- und Tagesgäste.

Wenigstens für eine räumliche Orientierung bei der touristischen Vermarktung bedarf es eines geeigneten Namens. Eine "Freizeitregion Kreis Recklinghausen" wäre verstehbar, aber wenig werbend. Mit den Städten Bottrop und Gelsenkirchen bildet der Kreis die "Emscher-Lippe-Region" (s. Beitrag Haumann), welche aber eher mit einem Wirtschaftsraum assoziiert wird. Der Namensteil Lippe vermag einen positiven Imagebeitrag zu leisten, was der Emscher trotz ihres erfolgreichen Umbaus (z.B. Emscher Landschaftspark, s. Beitrag Wehling) noch nicht gelingt. Ein Marktauftritt als "Freizeitlandschaft Emscher-Lippe" wäre daher diffizil. Eine begriffliche Konzentration auf die Lippe wäre imagefördernd, aber zu begrenzt. Die Historie der Region zeigt, dass sie weitgehend deckungsgleich mit dem "Vest Recklinghausen" ist. Bis 1816 war dies der von Lippe und Emscher begrenzte Raum (s. Mayr/Seidel 2002, S. 34f.). Der Regionsbegriff erlebt zurzeit eine Renaissance, z.B. als Claim "Der vestische Kreis" im Logo der Kreisverwaltung. So erscheint eine Vermarktung als "Vestische Freizeitlandschaft" konsequent.
Abb. 4: Einzugsbereich bezogen auf Recklinghausen (Quelle: Verändert nach MSP 2005, S. 18)

Die Frage nach der destinativen Abgrenzung wird mit "Ruhrgebiet" beantwortet. Dieses schließt die Kreise Wesel, Unna und Ennepe-Ruhr sowie zehn kreisfreie Städte mit ein. Vermarktet wird das Ruhrgebiet über die 1998 gegründete, beim Regionalverband Ruhr (RVR) angesiedelte Ruhrgebiet Touristik. Wichtigstes touristisches Leitthema ist die Industriekultur als für Kultur, Freizeit und Tourismus in Wert gesetztes Erbe der Montanindustrie; die Route der Industriekultur verbindet die meisten Stätten (vgl. KVR 2001, s. Beitrag Wehling). Der Kreis Recklinghausen ist ein Übergangsraum, in dem die Relevanz dieses Themas nach Norden deutlich abnimmt. Der Übergang zum ländlich geprägten Münsterland ist fließend. Diese Urlaubsregion wird über die 1975 gegründeten Münsterland Touristik vermarktet. Etabliertes Leitthema ist der Radelpark Münsterland. Ein Zukunftsthema ist die Profilierung als "die Pferderegion", in die der Kreis Recklinghausen als Partner integriert ist.

Im Ergebnis ist für den Kreis zwar die Abgrenzung als Freizeitregion möglich, die sich aber der überschneidungsfreien Zuordnung zu nur einer Destination entzieht. Gemäß einer touristischen Analyse handelt es sich um eine "Region im Zwischenraum"; die regionale Wahrnehmung ihrer Attraktionen, Potenziale und Themen verteilt sich auf das "ländliche Münsterland" und das "städtische Ruhrgebiet" (MSP 2005, S. 5).

Bedeutendster Wettbewerbsvorteil und rationales Nutzenversprechen (sog. USP) für den Tourismus im Kreis sind seine einzigartige Lage und gute Erreichbarkeit. Der Quellraum für Tagesausflügler und Kurzurlauber umfasst mit einer 45-Minuten-Isochrone (Abb. 4) das gesamte Ruhrgebiet und weite Teile des Münsterlandes. Mit den o.g. Kernthemen, Betonung der Highlights und "erlebbaren" Eigenarten wird ein glaubhaftes emotionales Nutzenversprechen (sog. ESP) geschaffen. Diese Nutzenversprechen sind Basis eines zielgerichteten Marketings im Rahmen der Tourismusförderung des Kreises und seiner zehn Städte.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007