Industriewald Ruhrgebiet – neue Natur auf alten Industriearealen

01.01.2008 Andreas Keil

weiterer Autor: Karl-Heinz Otto

Inhalt

Abb. 1: Projekt "Industriewald Ruhrgebiet" (Entwurf: K.-H. Otto, Quellen: Forstamt Recklinghausen, Landesentwicklungsgesellschaft NRW GmbH)

Ein zentrales Thema der Stadtentwicklung im altindustriell geprägten Ballungsraum Ruhrgebiet ist seit mehreren Jahrzehnten der ökonomische und demografische Wandel, der zunehmend zu "schrumpfenden" Städten in der Region führt. Betrachtet man diese Schrumpfungsprozesse als gegeben und versucht, trotz der bislang vertrauten und ausnahmslos verfolgten Wachstumsstrategien eine positive Wendung zu vollziehen, dann können Schrumpfungen auch neue "SpielRäume" (vgl. Hohn 2005, o. S.) eröffnen. Ein solcher Perspektivenwechsel bietet sich im Ruhrgebiet z. B. aufgrund des tiefgreifenden ökonomischen Strukturwandels der Montanindustrie beim Blick auf die in großer Zahl vorhandenen brach gefallenen ehemaligen Industrieflächen an (vgl. u. a. Weiss et al. 2005, die Industriebrachen im Ruhrgebiet einen Flächenanteil von 10.000 ha zuordnen). Eine Reihe dieser Industriebrachen sind als Flächen in das Projekt "Industriewald Ruhrgebiet" (Abb. 1) aufgenommen worden. Sie werden auf der projekteigenen Homepage folgendermaßen beschrieben:

"Auf Industriebrachen im Ruhrgebiet rührt sich vielfältiges Leben. Hellgelb und sattblau blühen Pionier- und Hochstaudenfluren auf schwarzen Bergehalden. Zug um Zug wandern Birken ein, bilden zunächst lichte Haine und wachsen schließlich zu einem Wald auf. Vor den Kulissen der mächtigen alten Industriearchitektur wirkt dieser junge Industriewald zunächst filigran und zerbrechlich. Ein Spannungsfeld, dessen Reiz sich niemand entziehen kann. Doch wachsen die zarten Birken zu großen Bäumen heran und bilden neue Waldräume, in die als weitere Waldbaumarten Eichen und Ahorne einwandern. Farne folgen. Grünspechte und Kleinspechte zimmern ihre ersten Höhlen. Hier, inmitten des Ruhrgebiets, wächst der Wald wild und ungezügelt heran. Totholz, umgestürzte Stämme, Lichtungen, dann wieder weitläufige Flächen mit Licht durchfluteten Pionierwäldern. Ein neuer Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen" (vgl. www.industriewald-ruhrgebiet.nrw.de, Stand 11. Juni 2008).

Abb. 2: Industriewald Zollverein (Foto: O. Balke)

Organisation und Partner

Das Projekt "Industriewald Ruhrgebiet" geht auf die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher-Park (s. Beitrag Wehling) zurück, die als Katalysator für die Erneuerung der Altindustrieflächen im Ruhrgebiet, besonders in der stark urban-industriell überformten Region entlang der Emscher, in der Zeit von 1989-1999 durchgeführt wurde (vgl. u. a. Dettmar/Ganser 1999). In deren Rahmen wurde seit 1996 unter dem Titel "Restflächenprojekt" mit einem Feldversuch auf den drei ehemaligen Bergbau- und heutigen Grundstücksfondsflächen Zollverein (in Essen-Katernberg), Alma und Rheinelbe (beide in Gelsenkirchen-Ückendorf) begonnen, eine neue Konzeption für nachhaltige Landschaftsentwicklung auf Industriebrachen auszuprobieren. Das geplante Konzept basiert auf dem Grundgedanken, dass auf brachliegenden Flächen Natur nach kurzer Zeit von selbst zurückkehrt und dass die wilde Naturentwicklung Pflanzen und Tieren wieder Lebensräume und der Bevölkerung aus der Umgebung der Flächen neue Freiräume bietet.

Nach sechsjähriger Testphase wurde der Ansatz Anfang 2002 unter dem Titel "Industriewald Ruhrgebiet" als dauerhaftes Projekt auf die Landesforstverwaltung Nordrhein-Westfalen übertragen. Seither nimmt das Forstamt Recklinghausen die Geschäftsführung und Koordination des Projekts in enger Kooperation mit dem Projektpartner Landesentwicklungsgesellschaft NRW GmbH wahr. Derzeit gehören dem Projekt 17 Teilflächen mit insgesamt etwa 244 ha an (Abb. 1).

Mit der Betreuung der Flächen und der lokalen Öffentlichkeitsarbeit sind ein forstlicher Angestellter sowie zwei Forstwirtschaftsmeister betraut, die auf der Industriewaldfläche "Rheinelbe" in der Forststation des Projekts arbeiten. Dieses Forsthaus ist ein Dokument des Wandels der Fläche: Ehemals war das Gebäude Stromverteilungszentrale, heute ist es das größte Forsthaus in Nordrhein-Westfalen und dient den Besuchern der Fläche als Versammlungsort und Informationszentrum. Um die dauerhafte und unabhängige Betreuung und Entwicklung von Industriebrachen zu Industriewald im Ruhrgebiet zu gewährleisten, wurde 2005 der Förderverein Industriewald Ruhrgebiet e. V. gegründet.

Ziele

Die mit dem Industriewald-Projekt entstandene Konzeption für eine nachhaltige Landschaftsentwicklung auf Industriebrachen basiert auf unterschiedlichen Zielsetzungen (vgl. u. a. Dettmar 2005, S.266):

Es sollen Industriebrachen durch eine pflegende und betreuende Arbeit ohne großen planerischen Aufwand entwickelt und erhalten werden, so dass
► Rückeroberungs- und Regenerationsprozesse der Natur und damit die naturbestimmte Entwicklung der Brachen bis hin zum Waldstadium möglich sind;
► die eigenständige ästhetische Qualität der Flächen erhalten bzw. betont wird. Denn auf Industriebrachen überlagern sich häufig zwei spezielle ästhetische Dimensionen bzw. sie stehen sich konträr gegenüber: Ruderalvegetation und ungenutzte Reste der Industrie;
► durch wenige pflegende und erschließende Eingriffe die Flächen zugänglich und nutzbar für Stadtbewohner werden und von ihnen als Rückzugs- und Aneignungsraum genutzt werden können. Selbstverständlich werden nur die Flächen freigegeben, die sich bei Altlastenuntersuchungen als gefahrlos erwiesen haben oder die zuvor durch entsprechende Sanierung gesichert wurden (vgl. Rebele/Dettmar 1996, S. 101-168);
► angesichts der schwierigen öffentlichen Haushaltslage keine großen Entwicklungs- und Pflegekosten für diesen neuen Freiraumtyp entstehen.

Bisherige Erfahrungen

Die lange Laufzeit des Projekts und dessen Fortführung auch nach der IBA Emscher Park sowie die Ausweitung von ehemals drei auf mittlerweile 17 Industriewaldflächen bekunden dessen Erfolg. Darüber hinaus gibt es aber auch eine Reihe von prozessbegleitenden wissenschaftlichen Untersuchungen, die die erfolgreiche Umsetzung des Projekts dokumentieren.

Die Landesanstalt für Ökologie, Bodenordnung und Forsten NRW (LÖBF) hat die fortlaufende Entwicklung der Industriewaldflächen genau beobachtet, um "hier die seltene Gelegenheit zu nutzten, die einsetzenden und fortlaufenden Rückeroberungs- und Regenerationsprozesse der Natur auf extrem naturfernen Standorten wissenschaftlich zu dokumentieren und zu analysieren" (vgl. Weiss 2003). Seit Beginn des Projekts wird eine interdisziplinäre Sukzessionsforschung auf ausgewählten Daueruntersuchungsflächen betrieben, die bodenkundliche, vegetationskundliche, faunistisch-tierökologische und waldkundliche Untersuchungen umfasst.

Der bekannte Landschaftskünstler Hermann Prigann untersucht den Industriewald nicht wissenschaftlich, sondern er begleitet die Projektfläche Rheinelbe seit 1997 künstlerisch. Er lässt hier Kunst "mit den Kräften der Natur" entstehen, und seine skulpturalen Orte haben auch die Vermittlerfunktion einer neuen Sichtweise auf Industriebrachen übernommen.

Ebenfalls seit 1997 werden auf den Industriewaldflächen sozialgeographische Studien zur Ermittlung von Wahrnehmung und Nutzung der Industriewälder durchgeführt (vgl. Keil 1998, 2002, 2005). Deren Ergebnisse zeigen, dass die Industriebrachen des Ruhrgebiets in der Zeit der IBA Emscher Park eine "Zeit des Ausreifens" vollzogen haben, in der sich die Wahrnehmung und Bewertung dieser Flächen wandelte. Seither werden sie vor allem als Abenteuerflächen von Kindern, als Freiräume von Jugendlichen und als Erholungsräume von Erwachsenen genutzt (vgl. Keil/Otto 2004 u. www.ruhr-uni-bochum.de/industriewald/).

Vision

Angesichts aktueller ökonomischer und demographischer Prognosen (z. B. BBR (2003): INKAR pro 2020: Regionalisierte Bevölkerungsprognose. CD-ROM) und des damit einhergehenden weiteren Schrumpfens der Ruhrgebietsstädte bleibt das ursprünglich formulierte Ziel, eine nachhaltige Landschaftsentwicklung auf Industriebrachen zu ermöglichen, weiterhin relevant. Es gilt bestehende und zukünftige Industriewälder zu entdecken, zu erschließen, zu bewahren und zu akzeptieren (vgl. Otto 2007; Projekt Ruhr GmbH 2005).

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Weiterführende Literatur/Quellen

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Erstveröffentlichung 2007, Aktualisierung 2008