Das Beckumer Zementrevier: Aufstieg und Niedergang

01.01.2008 Rudolf Grothues

In keinem Teil Deutschlands ballte sich die Zementindustrie auf so engem Raum wie im ehemaligen Kreis Beckum, dem heutigen südlichen Kreis Warendorf. Im Mittelpunkt Westfalens, am Südrand der Westfälischen Bucht, entstand eine derartige räumliche Geschlossenheit dieses Industriezweiges, dass man durchaus hier den Begriff des "Reviers" benutzen kann. Heute prägen immer noch große Steinbrüche, ehemalige Abbauflächen und ausgedehnte Fabrikanlagen die Landschaft um Beckum und Ennigerloh. Allerdings befindet sich der Raum in einem drastischen Strukturwandel, nachdem die Kalksteinförderung und Zementproduktion in ganz Deutschland rückläufig sind.

Nachweislich schon im Mittelalter wurden die Kalk- und Mergellager ausgebeutet. Das Rohmaterial wurde in sog. "Kuhlen" zumeist von Bauern gewonnen und an Ort und Stelle in einfachen Kalkbrandöfen verarbeitet. Sie nutzten dabei die natürliche Besonderheit, dass die Kalkschichten bis zu drei Meter an die Erdoberfläche reichen. Geologisch gehört dieser Raum zur Mukronatenstufe der Oberkreide. Die Mukronatenkreide tritt in unterschiedlicher Konsistenz auf: Während die Stromberger (30 - 35 m mächtig) und die Vorhelmer Schichten (mind. 80 m) qualitativ wenig ergiebig sind, weisen die weniger mächtigen (20 m) Beckumer Schichten die größte Verwertbarkeit auf. Morphologisch treten diese als Schichtstufe in Erscheinung. Sie lassen sich in unterschiedlicher Stärke, ausgehend vom Süden Beckums bis in den Norden Ennigerlohs, verfolgen. Die Grundbank befindet sich auf dem Höxberg in 154 m Höhe ü. NN, sinkt nach Norden ab, erreicht im Steinbruch "Elsa" in Neubeckum den tiefsten Punkt mit 82 m ü. NN, um bis zum Finkenberg wieder auf 115 m ü. NN anzusteigen. Der ganze Schichtpacken bildet, ähnlich wie das gesamte münsterländische Kreideplateu, eine Mulde (s. Beitrag Temlitz).

Diese Rohstoffvorkommen sind der Grund für die Tatsache, dass seit dem Mittelalter im Raum Beckum Kalk gebrannt wurde, bis in die erste Hälfte des 19. Jh.s mit Hammer, Hacke, Brecheisen, Handbohrer und Schaufel. Erst danach entwickelten sich stärkere mechanische Produktionsmethoden, wie Bagger, Einsatz von Sprengstoff und Steinbruchbahn.
Abb. 1: Entwicklung im Zementrevier Beckum-Neubeckum-Ennigerloh 1897-2006 (Entwurf: R. Grothues, Quellen: Allkämper 1986 u. eigene Recherchen)
Die Entwicklung des Beckumer Kalk- und Zementrevieres hängt unmittelbar mit dem rasanten Aufstieg des benachbarten Ruhrgebietes zusammen. Insbesondere die Eröffnung der Köln-Mindener-Eisenbahn (1847), die fast mittig zwischen Beckum und Ennigerloh den Raum kreuzt, beflügelte die Entwicklung. An der Haltestation Werl entwickelte sich rund 50 Jahre später die Gemeinde Neubeckum, heute Stadtteil von Beckum.

1872 erfolgte die Gründung des ersten Zementwerkes in Beckum. Bis 1915 folgten weitere 29, denen 1927 und 1930 jeweils ein weiteres folgte. Die Zementproduktion erhielt einen weiteren Schub, als 1903 die Westfälische Landeseisenbahn das Revier über Lippstadt mit Warstein verband. So konnte der hier gewonnene Massenkalk mit einem hohen Calcit-Gehalt (CaCo3) kostengünstig als Zuschlag zum Beckumer Rohmaterial transportiert werden. Mit 32 Zementwerken im Jahre 1930 erreichte der Bestand sein Maximum: Das Beckumer Revier galt als größte "Zementmulde" der Welt. Während des Zweiten Weltkrieges reduzierte sich die Produktion deutlich: Waren es 1939 noch 1,7 Mio. t im Jahr, wurden 1945 noch 134.000 t hergestellt. Aber bereits 1951 erreichte man Vorkriegsniveau, und weitere zehn Jahre später (Wiederaufbauphase) lag der Absatz bei 3,7 Mio. t.

Noch bis Mitte des 20. Jh.s war die Zementindustrie ausgesprochen mittelständisch organisiert. Von den 1962 produzierenden 15 Werken waren ganze 10 in Familienbesitz. Mit rd. 2.000 Beschäftigten wurde ca. 60% der gesamten Zement- und Zementklinkerproduktion ganz Westfalens (rd. 5,6 Mio. t) und rd. 12% Gesamtdeutschlands hergestellt.

Die kapitalintensive Herstellung und allgemeine Wirtschaftsflauten führten aber auch in diesem Industriezweig zu einem Konzentrations- und Umstrukturierungsprozess. Langsam setzten sich große Kapitalgesellschaften durch und übernahmen zahlreiche Werke.

Dieser Aufwärtsentwicklung folgte 1967 eine tiefgreifende Krise. Der Preisverfall und das Kartellverbot 1958 führten zu einer als "Zementkrieg" benannten Auseinandersetzung. Vier Betriebe mussten aufgeben, weitere Unternehmenskonzentrationen folgten.

Bis 1986 ist die Zahl der Betriebe auf acht, mit zehn Produktionsanlagen weiter zurückgegangen.
Abb. 2: Ehemaliges Dyckerhoff-Zementwerk Mark II Neubeckum (Foto: R. Grothues)

Dieser Rückgang findet bis heute seine Fortsetzung. In einem der größten Werke deutschlandweit, dem Dyckerhoff-Zementwerk Mark II in Neubeckum (Abb. 2), wurde wegen mangelnder Auslastung 2003 die Produktion eingestellt. 125 der bis dahin 140 Mitarbeiter verloren ihren Arbeitsplatz (s. Beitrag Bott). Ende 2006 wurde das Werk endgültig stillgelegt. Ein Teil der Anlagen, wie Brecheranlage und Rohmühle, wurde demontiert und in einem russischen Werk wieder zum Einsatz gebracht. Es gibt Pläne, den stillgelegten Steinbruch zu rekultivieren und z. T. einer landwirtschaftlichen Nutzung zuzuführen.

Eine ähnliche Entwicklung wurde dem ehemaligen Zementwerk Mersmann im Osten Beckums zu teil (Abb. 3). Nach Übernahme der Firma Readymix durch die mexikanische Cemex konzentrierte sich die Produktion auf das bestehende Werk am Kollenbach. Der Ofen wurde stillgelegt, derzeit arbeiten noch zwei Dutzend Beschäftigte im Mahlbetrieb und in der Verpackung. Eine Aufwertung des Standortes könnte die geplante Ansiedlung eines Industriekraftwerkes mit sich bringen. Auch im benachbarten Ahlen-Vorhelm wurde das ehemalige Zementwerk Bosenberg Mitte 2007 still gelegt.

Abb. 3: Ehemaliges Werk Mersmann in Beckum (Foto: R. Grothues)

Die Zukunft dieser Industriegiganten in der Landschaft ist offen. Zwar liegen die Produktionen auf Eis, doch werden die Grundstücke weiterhin in Besitz der Firmen bleiben, um in der langfristigen Zukunft für jede unternehmenspolitische Entscheidung offen zu sein.

Aktuell produzieren gerade noch zwei Werke in Beckum und eines in Ennigerloh Zementklinker. Außerdem existiert in Ennigerloh ein Misch-, Mahl- und Verpackungswerk. Mit Ausnahme eines Werkes in Beckum befinden sich alle in Besitz weltweit agierender Konzerne (Cemex in Beckum, Heidelberger-Zement in Ennigerloh). Damit gingen auch die regionale und lokale Verantwortung und Identifikation verloren. Das Engagement dieser Firmen vor Ort hat spürbar nachgelassen. Lediglich die ursprünglich 1914 gegründete Phoenix Zementwerke Krogbeumker GmbH & Co. KG befindet sich noch in Familienbesitz.

Die wirtschaftliche Bedeutung dieses Industriezweiges ist in der Region zwangsläufig geringer geworden. Insgesamt werden heute noch rd. 500 Menschen in den Zementwerken beschäftigt. Und wegen der Konzernverflechtungen fällt der überwiegende Teil der Gewerbesteuer nicht mehr vor Ort an.

An zahlreichen Stellen im ehemaligen Revier sind weitere Rekultivierungsmaßnahmen erforderlich. Zwar wurden die ehemaligen Abbauflächen schon vielfältigen Neunutzungen zugeführt, z. B. Erholungs- und Freizeitgelände, Landwirtschaft, Wohngebiete, Mülldeponie und sogar ein Fußballstadion, doch sind immer noch zahlreiche "Kuhlen in der Landschaft" zu stopfen.

Beitrag als PDF-Datei ansehen/speichern (Größe: 2 MB)

↑ Zum Seitenanfang


Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007, Aktualisierung 2008