Werksschließungen in Westfalen – Industriearbeiter in Zeiten des strukturellen Wandels

01.01.2014 Oliver Bott

Inhalt

Es steht außer Frage, dass vor allem lokale Arbeitskräfte den wirtschaftlichen Erfolg einer Region tragen. Sie sind somit der Schlüssel zu wirtschaftlichem Wachstum. In Zeiten des Wandels gilt ihnen besondere Aufmerksamkeit, dann nämlich, wenn die wahre Innovationskraft eines Wirtschaftsraumes auf die Probe gestellt wird. Im Rahmen einer Bachelorarbeit für das King‘s College London beschäftigte sich der Autor dieses Beitrags mit der Frage, wie sich Industriearbeiter mit dem Strukturwandel arrangieren und welche Faktoren eine wichtige Rolle spielen, um diesen Wandel erfolgreich zu meistern.

Als Fallstudie dienten verschiedene Expertengespräche sowie 16 qualitative Interviews mit ehemaligen Mitarbeitern im Beckumer Zementrevier, dessen Aufstieg und Niedergang bereits von R. Grothues (2007) untersucht wurde.

Das Beckumer Zementrevier, das seit den 1960er Jahren mit einem stetigen Konzentrationsprozess aufgrund von nachlassendem Zementbedarf, "feindlichen" Übernahmen, verstärkten Produktionskapazitäten und Prozess-Automatisierungen konfrontiert war, erlebte die letzten Werksschließungen 2002 und 2006 der Werke Mark II (Dyckerhoff Werk in Neubeckum) und Bosenberg (Heidelberg Werk in Ahlen-Vorhelm). Die Forschungsarbeit befasst sich mit der Frage, wie sich die ehemaligen Mitarbeiter dieser Werke an den Strukturwandel in Westfalen angepasst haben, wobei im Speziellen ihre persönlichen Motive und Erfahrungen im Mittelpunkt stehen.
 

Abb. 1: Stillgelegtes Zementwerk Mersmann, Beckum (Foto: Rudolf Grothues)

Ergebnisse

Das Durchschnittsalter der befragten ehemaligen Mitarbeiter (zehn Angestellte und sechs Arbeiter) lag relativ hoch bei 53 Jahren. Jeder von ihnen war zum Zeitpunkt der Werksschließung im Mittel 23 Jahre in der Zementindustrie tätig. In allen Gesprächen wurde deutlich, dass die ehemaligen Zementarbeiter, die noch nicht verrentet waren, weiterhin auf dem Arbeitsmarkt aktiv tätig sein wollten oder nach einer Arbeitsstelle suchten. Durch ihr Alter ließen sie sich in der Regel nicht entmutigen. Zum Zeitpunkt der Interviews im Sommer 2011 waren zwei der Befragten in Rente, einer arbeitslos, fünf waren weiterhin in der Zementindustrie oder in der Zuliefererbranche tätig, zwei arbeiteten als Hausmeister, die anderen waren im Handel, in der Chemie- oder Pharmaindustrie tätig. Fünf der Gesprächspartner waren seit der Entlassung für einige Monate arbeitslos gewesen, zwei davon länger als zwölf Monate. Diese durchaus positiven Beschäftigungszahlen täuschen allerdings über den mühseligen und oftmals frustrierenden Anpassungsprozess hinweg. Die Mehrheit der Befragten hatte ihren Arbeitsplatz mehrmals gewechselt und musste aus finanziellen Gründen befristete oder unsichere Beschäftigungsverhältnisse eingehen. Ein typischer Werdegang der befragten Mitarbeiter beinhaltete durchschnittlich vier verschiedene Arbeitsstationen seit der Werksschließung.

Die Faktoren Alter und Qualifikation konnten in den Gesprächen nicht als ausschlaggebend für die Anpassung an die geänderten Anforderungen des Arbeitsmarktes festgestellt werden (Gerdes et al. 1990; Schwecke 2004; Dicken 2011). Ebenso war kein klarer Unterschied in der Anpassung von Arbeitern und Angestellten ersichtlich. Vielmehr stellte sich die Dauer der Betriebszugehörigkeit und somit die emotionale Fixierung auf die Zementindustrie als wichtigster Faktor in der Anpassung an die Schließung heraus. Der Fokus auf der Zementindustrie, verbunden mit der beruflichen Spezialisierung, erschwerte den Mitarbeitern, sich an andere Sektoren anzupassen. Wie ein Interviewpartner sagte: "So viel Hilflosigkeit hab ich noch nie gesehen wie in der Zeit. Was ein großes Problem war: Totale Selbstüberschätzung." Diese spiegelte sich zunächst in der breiten Ablehnung von Fortbildungsmaßnahmen wieder, die von den Arbeitgebern sowie der lokalen Agentur für Arbeit angeboten wurden. In den meisten Gesprächen äußerten die Mitarbeiter, dass sie zwar angebotene Fortbildungskurse sowie Bewerbungstrainings generell als hilfreich bewerteten, persönlich aber nicht davon profitierten und diese folglich nur selten beanspruchten. Über einen Computerkurs schimpfte ein Mitarbeiter: "Mit so einem Mist müsst ihr mir nicht kommen."

Abb. 2: Stillgelegtes Zementwerk Dyckerhoff Mark II, Beckum-Neubeckum (Foto: Rudolf Grothues)

Wenige Zementarbeiter konnten einsehen, dass sie den Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr entsprachen. Daher erwarteten sie Arbeitsangebote in ihrem angestammten Berufsfeld statt Fortbildungen und waren dementsprechend frustriert über die ihrer Ansicht nach mangelnde Unterstützung.

Nachdem die Unterstützungsmaßnahmen der Arbeitgeber beendet waren, sahen sich die meisten Mitarbeiter mit Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert. Zahlreiche Gesprächspartner lehnten es kategorisch ab, ihr Spezialwissen und somit eine Weiterbeschäftigung in ihrer angestammten Zementindustrie aufzugeben, auch wenn sie dafür längere Phasen ohne eine Beschäftigung, eine Reihe von befristeten Verträgen oder auch Arbeit im Ausland annehmen mussten. Außer einem Interviewteilnehmer hatten alle anderen Zementarbeiter einen beruflichen Abstieg durch De-Qualifizierung, härtere körperliche Arbeit, weniger Gehalt sowie längere Pendelzeiten hinnehmen müssen.

Im Gegensatz dazu waren die Mitarbeiter, die in anderen Branchen tätig wurden, weniger dazu bereit, berufliche Abstriche zu akzeptieren, besonders in den ersten Monaten unmittelbar nach der Werksschließung. Wie ein Mitarbeiter allerdings feststellte: "Große Sprüche wie ‚für das Geld geh ich nicht arbeiten’ sind auf der Strecke geblieben." Für viele vergingen Monate oder sogar Jahre, bis sie realisierten, dass der Beruf, in dem sie zwischen 5 und 40 Jahren gearbeitet hatten, keine Perspektive mehr bieten würde. Beispielhaft dafür ist der Werdegang eines 58-Jährigen, der zunächst seine Folgebeschäftigung in der verarbeitenden Industrie kündigte, dann aber nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit von "Minderwertigkeitsgefühlen" geplagt wurde. Als Konsequenz nahm er zahlreiche schlecht bezahlte und befristete Arbeitsverhältnisse in Kauf, bevor er seinen heutigen Teilzeitjob als Hausmeister aufnahm. Generell kann gesagt werden, dass finanzielle Abstriche für die große Mehrheit der ehemaligen Zementarbeiter unumgänglich waren. Ein Interviewpartner bezeichnete seinen Festvertrag angesichts des relativ hohen Alters von 58 Jahren als "Sechser im Lotto."

Abb. 3: Entwicklungen im Zementrevier Beckum 1987–2013 (Quellen: Allkämper 1986; Grothues 2007)

Zusammenfassung

Die Befragung macht deutlich, dass die ehemaligen Mitarbeiter des Beckumer Zementreviers nach der Schließung ihrer Werke generell gut in den regionalen Arbeitsmarkt eingegliedert wurden – begünstigt durch eine starke und diversifizierte Industrie. In dieser Fallstudie waren weniger das Alter, die persönlichen Qualifikationen oder berufliche Stellung für die Anpassung der ehemaligen Zementarbeiter ausschlaggebend als vielmehr die Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit.

Obwohl die Mehrheit der Befragten weiterhin auf dem Arbeitsmarkt tätig ist, hat diese qualitative Studie dennoch deutlich gemacht, dass die Anpassung mühselig und mit zahlreichen Rückschlägen, persönlich wie beruflich, verbunden war. In diesem Fall hatte der sog. Displacement Effect (Massenentlassungs-Effekt), der häufig mit größerem Selbstvertrauen und generell positiven Wirkungen auf die Anpassung von entlassenen Mitarbeitern auf dem Arbeitsmarkt in Verbindung gebracht wird (Heseler 1990; Osterland 1990), eine negative Auswirkung. Die Massenentlassung führte bei den langjährig in der Zementindustrie beschäftigen Mitarbeitern durch die emotionale Fixierung zu einem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, was den beruflichen Werdegang im Anschluss der Entlassung nachteilig beeinflusste. Die Befunde unterstreichen die Bedeutung lebenslangen Lernens auf der Seite der Beschäftigten und die gezielte Unterstützung durch Transfergesellschaften, Qualifizierungs- und andere Unterstützungsmaßnahmen seitens der Arbeitgeber und des Staates, bei denen die Erwartungshaltung der Zielgruppen stärker berücksichtigt werden muss.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2014