Niederdeutsche Sprache – westfälische Mundarten
Die älteste Epoche: das Altwestfälische
Nach gelegentlichen Einzelwörtern in lateinischen Texten tritt kurz vor der Mitte des 9. Jh.s erstmals die regionale Sprache in Erscheinung, das Altwestfälische bzw. Altsächsische. Die Texte sind ganz und gar monastisch geprägt: Träger der neuen Schriftlichkeit sind die Klöster; die jetzt erstmals verschriftlichte Volkssprache steht zum größten Teil im Dienste der Missionierung und Unterweisung im christlichen Glauben. Neben dem Heliand, einer umfangreichen Evangelienharmonie in Stabreimversen, sind zahlreiche kleinere Texte überliefert: Segenssprüche, Psalmen, Beichtspiegel, Taufgelöbnisse. Während die meisten Texte nicht lokalisierbar sind, ist von der Freckenhorster Heberolle (Abb. 1) anzunehmen, dass sie im gleichnamigen Kloster entstanden ist: ein Verzeichnis der Einkünfte zum Unterhalt der Mönche. Die wenigen bis heute überlieferten Texte dieser Periode stammen aus der Zeit zwischen 830 und ca. 1050, danach wird für anderthalb Jahrhunderte wieder ausschließlich lateinisch geschrieben.
Das Mittelniederdeutsche
Der Untergang der mittelniederdeutschen Schriftsprache
Der gebildete Norddeutsche war seit etwa 1600 multilingual: er sprach eine niederdeutsche Ortsmundart, beherrschte noch die mittelniederdeutsche Schriftsprache, schrieb und sprach auch Hochdeutsch und hatte Lateinbildung; bei einem Teil entfiel die Lateinbildung, beim allergrößten Teil der Bevölkerung aber blieb es zunächst bei der niederdeutschen Muttersprache, und das fremde Hochdeutsche wurde nur sporadisch verstanden. Erst im 18. und 19. Jh. führten der Ausbau des Schulsystems, die allgemeine Schulpflicht, doch auch das Aufkommen von preisgünstigen Druckerzeugnissen zu einem sprachlichen Wandel: auch die einfache Bevölkerung wurde nach und nach zweisprachig, zuerst in den Städten, dann auf dem Lande. In westfälischen Städten war bis zum Ersten Weltkrieg dieser Wandel weitgehend abgeschlossen, auf dem Lande dauerte er etwa eine Generation länger.
Die Mundarten heute
Die Erforschung der Mundarten hat in einem Zeitraum von über einem Jahrhundert viele Erkenntnisse gebracht. Überregionale Forschungsvorhaben wie der Deutsche Sprachatlas und der Deutsche Wortatlas sowie regionale Forschungen in Westfalen, vor allem von Seiten der Germanistik an der Universität Münster und der Arbeitsstelle der Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens des LWL, lassen ein facettenreiches Bild der Phonologie, Morphologie und Lexik der Mundartlandschaft entstehen.
Die Isoglosse der westfälischen Brechungsdiphthonge (Bieke vs. Bekke, Béke 'Bach'; broaken vs. brokken, braoken 'gebrochen') und die Wortgrenze von Rüe als allgemeine Bezeichnung für den Hund (nicht für den männlichen Hund wie das Wort Rüde im Hochdeutschen) umschließen ein innerwestfälisches Areal, bei dem allerdings einige Randgebiete, etwa das Westmünsterländische und das Lippische, ausgeschlossen sind (Abb. 3). Deshalb wird seit einigen Jahrzehnten im Nordosten die Linie favorisiert, die die westfälische Unterscheidung der langen a-Laute in ein tonlanges palatales á und ein altlanges velares â begrenzt, während nordöstlich davon die beiden Laute zusammenfallen in einen velaren â-Laut, hier "ao" geschrieben (westfälisch: máken, klágen, Háse vs. norddeutsch: maoken, klaogen, Haose). Im Osten bildet die Weser die Grenze, im Süden das Isoglossenbündel der sog. Zweiten Lautverschiebung, die hier die westfälischen von den mitteldeutschen hessischen Dialekten trennt; im Westen begrenzt zunächst die Isoglosse der Westfälischen Brechungsdiphthonge und schließlich die deutsch-niederländische Staatsgrenze die westfälische Dialektlandschaft. Strukturgrenzen verschiedener lautlicher Erscheinungen führen zu einer Binnengliederung in das Westmünsterländische, das Münsterländische, das Ostwestfälische, das Südwestfälische und in das jenseits der niederdeutsch-mitteldeutschen Dialektscheide gelegene Siegerländisch-Wittgensteinische (Abb. 3).
Der Gebrauch der plattdeutschen Mundarten geht seit Jahrzehnten kontinuierlich zurück, da die Elterngeneration die Mundart nicht mehr an die folgende Generation weitergibt.
Um eine positivere Bewertung und Förderung des Sprachgebrauchs bemühen sich Literaten, Laienbühnen, Plattdeutsche Gesprächskreise und Vereine. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der niederdeutschen Sprache und Literatur in Geschichte und Gegenwart schlägt sich in Dialektatlanten, Wörterbüchern sowie zahlreichen Monografien nieder.
Vollständig wird das Niederdeutsche allerdings nicht untergehen, denn in den Ortsnamen, Flurnamen und vor allem in den Familiennamen, die zum größten Teil aus der mittelniederdeutschen Zeit stammen, also aus einer Zeit, als das sprachliche Umfeld noch rein niederdeutsch geprägt war, wird es erhalten bleiben. Sicherlich werden auch bestimmte lautliche und lexikalische Merkmale des Niederdeutschen weiterhin in der regionalen westfälischen Umgangssprache überdauern. Der heutigen jüngeren Generation und künftigen Generationen wird vieles jedoch zumeist unverständlich sein - Relikte aus längst vergangener Zeit.
Weiterführende Literatur/Quellen
• | Damme, R., J. Goossens, G. Müller und H. Taubken (1996): Niederdeutsche Mundarten. In: Geographische Kommission für Westfalen (Hg.): Geographisch-landeskundlicher Atlas von Westfalen, 8. Lieferung. Münster | |
• | Foerste, W. (1957): Geschichte der niederdeutschen Mundarten. In: Stammler, W. (Hg.): Deutsche Philologie im Aufriß. Band 1. 2. Aufl. Berlin, Sp. 1729-1898 | |
• | Goossens, J. (Hg.) (1983): Niederdeutsch. Sprache und Literatur. Eine Einführung. Band 1: Sprache. 2. verb. und erw. Aufl. Neumünster | |
• | Goossens, J. (1983): Sprache. In: Kohl, W. (Hg.): Westfälische Geschichte in drei Textbänden und einem Bild- und Dokumentarband. Band 1: Von den Anfängen bis zum Ende des alten Reiches. Düsseldorf, S. 55-80 | |
• | Macha, J., E. Neuß und R. Peters (Hg.) (2000): Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte. Köln/Weimar/Wien (= Niederdeutsche Studien, Nr. 46) | |
• | Müller, G. und H. Niebaum (1989): Sprachliche Gliederungen und Schichtungen Westfalens. In: Der Raum Westfalen. Band VI, 1. Münster, S. 1-92 | |
• | Nörrenberg, E. (1953/54): Die Grenzen der westfälischen Mundart. In: Westfälische Forschungen, Nr. 7. Münster, S. 114-129 | |
• | Peters, R. (2000): Westfälische Sprachgeschichte von 1300 bis 1500. In: Macha, J., E. Neuß und R. Peters (Hg.): Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte. Köln/Weimar/Wien, S. 101-119 (= Niederdeutsche Studien, Nr. 46) | |
• | Peters, R. (2000): Westfälische Sprachgeschichte von 1500 bis 1625. In: Macha, J., E. Neuß und R. Peters (Hg.): Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte. Köln/Weimar/Wien, S. 165-179 (= Niederdeutsche Studien, Nr. 46) | |
• | Sanders, W. (1982): Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch. Göttingen | |
• | Wortmann, F. (1977): Überlegungen zum Entwurf einer Karte der westfälischen Mundarten. In: Niederdeutsches Wort, Nr. 17. Münster, S. 85-114 |
Erstveröffentlichung 2007