Die Entwicklung des Lippetals

01.01.2007 Jürgen Herget

Kategorie: Naturraum

Schlagworte: Landschaft · Geschichte · Lippe · Gewässer · Lippetal

Die Lippe entspringt in 142 m Höhe mehreren Karstquellen in Bad Lippspringe und verläuft über 214 km am Südrand der Westfälischen Tieflandsbucht westwärts, ehe sie bei Wesel in den Rhein mündet. Mit einem durchschnittlichen Gefälle von nur 0,57‰ ist sie als typischer Flachlandfluss zu charakterisieren. Bedeutende Zuflüsse sind die Alme, die große Teile der Paderborner Hochfläche über ein unterirdisches Karstwassersystem entwässert, die Schledden am Haarstrang mit der Ahse und Seseke als größere Bäche sowie die Stever (s. Beitrag Pohlmann).

Bei einer ersten Betrachtung macht der Talboden einen natürlichen Eindruck. Der mäandrierende Flusslauf ist in die Niederung eingeschnitten und von dichtem Buschwerk begrenzt. Die geomorphologische Struktur des Talbodens der Lippe im Unterlauf westlich von Lünen zeigt eine für die Flussläufe Nordwestdeutschlands einmalige Gliederung der holozänen Flussterrassen. Im Oberlauf bis Lünen ist der Talboden in die hochwasserfreie weichseleiszeitliche Niederterrasse mitsamt der Aue als Hochwasserbett eingeschnitten. Durch Ablagerungen bei Hochwässern zeigt die Aue ein teilweise lebhaftes Kleinrelief mit Sandbänken und Uferwällen.

Unterhalb Lünen jedoch taucht aus dem Niveau der Aue ein weiteres Terrassenniveau auf, das zwischen die weichseleiszeitliche Niederterrasse und die Aue eingeschaltet ist. Dieses Zwischenniveau ist nicht bis zur Mündung der Lippe in den Rhein vorhanden, sondern verschmilzt unterhalb von Dorsten wieder mit der Aue. Im Raum Haltern ist diese Terrasse mit einer Höhe von rund 3 m über der Aue und rund 2 m unter der Niederterrasse am deutlichsten ausgebildet. Die Verebnungsfläche der Terrasse ist durch rund 1 - 2 m tief eingeschnittene Rinnen unterbrochen, was zur inselartigen Ausbildung des Niveaus und zur charakteristischen Benennung als Inselterrasse geführt hat. Die Aue als erstes Terrassenniveau oberhalb der Flussrinne ist typischerweise als schmaler flussrinnenparalleler Streifen von rund 3 m Breite ausgebildet.

Abb. 1: Der Talboden im unteren Lippetal am Pegel Datteln-Leven (Foto: J. Herget, Juni 2005)
Bei näherer Betrachtung lassen sich zwei Niveaus der Inselterrasse unterscheiden, welche sich auf Grund der rezenten Sedimentdynamik mit Abtrag und Ablagerung im Bereich des Hochwasserbettes der Lippe nicht überall deutlich unterscheiden lassen. Bei stärkeren Hochwässern wird auch die obere Inselterrasse überflutet. Abb. 1 illustriert die Ausbildung an einer Typlokalität am Pegel Datteln-Leven. Vergleiche mit der geomorphologischen Ausbildung der Talböden anderer Flussläufe belegen, dass dieses Erscheinungsbild einmalig ist.

Es fällt ferner auf, dass die Auenrinnen vergleichsweise klein dimensioniert sind. So zeigen Kalkulationen zur Abflusskapazität der Rinnen, dass diese durchweg nicht in der Lage sind, den gesamten Abfluss der Lippe zu fassen. Daraus ergibt sich zwingend der Schluss, dass die Lippe ursprünglich nicht wie heute in einer einzelnen Flussrinne mäandrierend verlief, sondern auf mehrere Rinnen aufgeteilt (anastomosierend) war.

Wie, wann und warum aber kam es zur Umgestaltung zum heutigen Bild des Flusslaufes der Lippe? Wenn offensichtliche natürliche Einflussfaktoren fehlen ist es naheliegend, den Einfluss des Menschen näher zu betrachten. Hier bietet ein Blick in die Geschichte wichtige Hinweise, denn die Lippe war bis zum Aufbau des Eisenbahnnetzes ein wichtiger Verkehrsweg. Erstmals große Bedeutung als Schifffahrtsweg hatte die Lippe zur Zeit der römischen Feldzüge gegen das freie rechtsrheinische Germanien, die in der Zeit 11 vor Christus bis 9 nach Christus stattgefunden haben. Die Aufmarschlinie der römischen Truppen war entlang der Lippe. Diese Anordnung der Lager ist durch fehlende Transportwege zur Versorgung der vorgerückten Truppen begründet, die einzig über die Lippe auf Schiffen versorgt werden konnten. Auch wenn es kaum Überlieferungen über Schifffahrt der Römer auf der Lippe gibt, ist die Notwendigkeit dieses Transportweges bewiesen, und es wurden im Umfeld des Lagers in Haltern erste archäologische Nachweise der römischen Schifffahrt auf der Lippe erbracht.
Abb. 2: Abfolge von Umgestaltungsmaßnahmen der Lippe in historischer Zeit (Entwurf: J. Herget)

Nachdem historische Quellen belegen, dass die heutige Lippe wegen Untiefen oft nur wenige Monate im Jahr schiffbar war, wie mag dies dann erst vor 2000 Jahren ausgesehen haben? Zur damaligen Zeit wies die Lippe zweifellos noch ein anastomosierendes Gerinnebett auf, durch das der römische Nachschub transportiert werden musste. So ist es denkbar, dass durch die römischen Truppen der Zulauf in einzelne Flussrinnen durch die Anlage kleiner Dämme blockiert und so der Abfluss auf eine einzelne Rinne konzentriert wurde. Die Ausweitung der Rinne wurde dann durch die natürliche Erosionskraft des fließenden Wassers besorgt, die dazu führte, dass die einzelne verbliebene Rinne tiefer und breiter wurde und so der Flusslauf für Schiffe leichter befahrbar wurde. Flussaufwärts mussten die Schiffe getreidelt, d. h. durch Tiere oder Menschen gezogen werden. Dazu musste entlang der neuen Hauptrinne ein schmaler flussrinnenparalleler Streifen gerodet werden. Mit diesen Maßnahmen wäre der Zustand des Gerinnebetts der Lippe vom aufgeteilten zum heutigen Bild des mäandrierenden Flusslaufs verändert worden. Dieses Szenario des Flussbaus durch die römischen Truppen ist bislang weder historisch noch archäologisch belegt, erscheint aber vor dem vorstehend geschilderten Hintergrund der Notwendigkeit einer gesicherten Schifffahrt auf der Lippe plausibel.

Ausgehend von dieser frühen Umgestaltung des Flussbetts fanden weitere Flussbaumaßnahmen in der Lippe in historischer Zeit statt, die sich für einzelne Lokalitäten zeitlich und chronologisch nachweisen lassen (Abb. 2).

Aus der post-römischen Zeit liegen erwartungsgemäß keine Überlieferungen zur Lippeschifffahrt vor. Aus dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit sind örtliche Mäanderdurchstiche insbesondere im Unterlauf der Lippe belegt. Durch die damit verbundene Laufverkürzung des Flusses wurde lokal das Gefälle erhöht, so dass die Lippe sich durch die erhöhte Fließgeschwindigkeit eingeschnitten hat. Hierdurch hat sich der vertikale Abstand zwischen dem mittleren Wasserstand im Fluss und dem ursprünglichen Hochwasserbett vergrößert. Im 19. Jh. wurden neben Uferbefestigungen und weiteren lokalen Mäanderdurchstichen auch seitliche Zuschüttungen mit entsprechender Stabilisierung der Ufer durchgeführt. Durch eine derartige Einengung der Flussrinne kommt es wiederum zur Eintiefung, insbesondere aber auch zu einer Erhöhung des Wasserstandes, was das eigentliche Ziel war. Im Bereich der stabilisierten bzw. neu angelegten Ufer musste ein neuer Treidelpfad angelegt werden, der bei Lippehochwasser durch die Sedimentdynamik natürlicherweise zum heutigen Bild überprägt wurde. In der Summe der Maßnahmen über die Zeit ist das ausgedehnte Hochwasserbett der Lippe zusehends außer Funktion geraten: Es liegt so hoch, dass es nur noch von einzelnen Extremhochwässern erreicht wird. Angriffspunkt für die Erosionskraft der Hochwässer wurde die Verflachung des Treidelpfades, die lokal zu einem neuen Terrassenniveau, dem der unteren Inselterrasse, erweitert wurde. So ist aus der ursprünglichen Aue im Unterlauf durch anthropogene Maßnahmen zur Erleichterung der Schifffahrt die Inselterrasse entstanden. Durch die Konzentration der flussbaulichen Maßnahmen auf den Unterlauf der Lippe erklärt sich die begrenzte Verbreitung der Inselterrasse.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007