"-heim"-Orte: Strukturelemente einer karolingischen Siedlungspolitik

01.01.2009 Rudolf Bergmann

Bestimmte Orte mit dem Siedlungsnamengrundwort "-heim" weisen in Westfalen ein auffälliges Verbreitungsmuster auf: Es sind Siedlungen, deren Ortsname eine Richtungsangabe enthält (Typ Ostheim) oder aus topografischen Merkmalen entlehnt ist (Typ Stocheim). Räumlich sind bzw. waren derartige ländliche Siedlungen um einen Ort mit im Mittelalter herausgehobener Zentralitätsfunktion gruppiert, und sie bilden ferner Siedlungsinseln aus. Auffällig ist, dass derartige Siedlungsinseln an bedeutenden mittelalterlichen Fernwegen auftreten (Abb. 1). Sie werden als Teil eines reichsfränkisch-karolingischen Siedlungssystems zur Sicherung und Befriedung Sachsens angesehen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit um 800 n. Chr. entstanden ist. Da -heim Orte im südöstlichen Westfalen häufig im Verlauf eines spätmittelalterlichen Ballungsprozesses aufgegeben wurden, bestehen Voraussetzungen, deren Entstehungszeit archäologisch einzugrenzen.
Abb. 1: Verbreitung von "-heim"-Orten im südöstlichen Westfalen in karolingischer Zeit (spätes 8. – 9. Jh.) (Entwurf: R. Bergmann; Quellen: Bergmann 1989, Henkel 1974, Schoppmeyer 1979 u. 1986, Stephan 1979)

An dem von Paderborn zur Weser verlaufenden Hellweg bestand um Brakel (Kr. Höxter) ein inselhaftes Vorkommen mit -heim-Namen. Den Zentralort, die erstmals 836 n. Chr. genannte villa brechal, flankierten die Ortswüstungen Sudheim und Ostheim, deren Siedlungsbeginn archäologisch bis mindestens in die Zeit um 800 n. Chr. zurückreicht. Die Existenz von Sudheim und Ostheim führte zu der Annahme, dass sich in Brakel ein karolingischer Königshof befunden habe. Die exakte topografische Lage dieses wahrscheinlichen Königshofes, für dessen potenzielle Zugehörigkeit zu dem großen Reichsgutkomplex um Herstelle (heute zur Stadt Beverungen gehörig) sich historische Argumente anführen lassen, konnte bislang nicht eindeutig ermittelt werden.

Am Südrand der Warburger Börde umschreiben die -heim-Orte einen Halbkreis von ca. 2,5 km Radius mit der Diemel als Basislinie. Der Halbkreis ist von seiner räumlichen Struktur auf die frühmittelalterliche Burganlage innerhalb der späteren Doppelstadt Warburg und die außerhalb der mittelalterlichen Stadtumwehrung gelegene Ortswüstung Hüffert mit der Kirche St. Peter bezogen. Für diese vermutliche Urpfarrkirche des Raumes konnte ein Bestehen im 9./10. Jh. nachgewiesen werden. Der Halbkreis wird von den Ortswüstungen Rothem, Papenhem, Silhem, Osthem und dem noch bestehenden Ort Dalheim gebildet. Die Überlieferung dieser Orte setzt teilweise bereits in den "Corveyer Traditionen" ein (Asthem bzw. Dalheim: 822 – 876 und Silihem bzw. Rothem: 962 – 1022), wobei für die beiden in den älteren "Traditionen" genannten Siedlungen aufgrund des Bestehens mehrerer gleichnamiger Orte in Südostwestfalen ein Bezug auf den Raum Warburg nicht eindeutig beweisbar ist. Erst später genannt ist Papenhem mit der Kirche St. Jacobus maior, einer Eigenkirche des Klosters Corvey. Rothem, westnordwestlich von Warburg gelegen, ist von seiner topografischen Lage in eindeutiger Weise an den im Diemeltal verlaufenden Fernweg Marsberg–Warburg orientiert. Das am Desenberg gelegene, 2008 lokalisierte Osthem sperrte einen Altweg, der von Warburg in ostsüdöstlicher Richtung verlief. Aus dem langgestreckten Siedlungsareal konnten neben prähistorischem Material Funde aus dem 9./10. Jh. geborgen werden.

Im Soratfeld bestand um die spätere Stadt Lichtenau eine ausgeprägte Siedlungsinsel von 8 km Längserstreckung. Zentralort dieses Raumes war das erstmals 1036 genannte Kercdorp mit der Kirche St. Kilian, deren Pfarrrechte nach dem Wüstfallen dieses Ortes mitsamt dem an der wahrscheinlichen Urpfarrkirche haftenden Patrozinium an die Stadtpfarre übertragen wurden. Aus dem Siedlungsbereich von Kercdorp, das bislang als einzige Ortswüstung dieses Kleinraumes untersucht wurde, liegen erste Funde seit dem 10. Jh. vor. Den ehemaligen Kirchort umgeben die bestehenden -heim-Orte Grundsteinheim und Holtheim, die partiellen Ortswüstungen Bülheim und Sudheim und die Ortswüstungen Nordheim, Odenheim und Masenheim. Die Siedlungsinsel wurde von einem Hellweg gequert, der eine Verbindung des mittleren Diemeltales um (Warburg-)Scherfede mit Paderborn herstellte. Unmittelbar am Altweg lagen u. a. das ehemalige Kirchdorf und Bülheim, in dem für das 9. Jh. erstmals Besitz des Klosters Corveys nachgewiesen ist.

Abb. 2: Zeugnis der Christianisierung Westfalens: Karolingische Fibel (Bekleidungsverschluss) aus dem Hockelheimer Feld bei Erwitte (Foto: S. Brentführer, LWL-Archäologie für Westfalen)

Im Hellwegraum zwischen Paderborn und Erwitte sind alle -heim (bzw. -hem)-Orte von Wüstungserscheinungen betroffen gewesen. Mittlerweile sind nahezu alle diese Orte archäologisch lokalisiert. In der Umgebung des karolingischen Pfalzortes Paderborn ist lediglich eine wüstgefallene -hem-Siedlung festzustellen – das 1,8 km südwestlich des karolingischen Versammlungsortes Lippspringe gelegene Withem. Die seit dem 9. Jh. bezeugten Nennungen eines Withem in den älteren "Corveyer Traditionen" sind wahrscheinlicher auf dieses Withem als auf den gleichnamigen Ort bei Geseke zu beziehen. Im Zentrum des bereits 952 als stadtähnliche Siedlung (civitas) bezeugten Geseke befand sich ein Herrschaftsmittelpunkt des Grafengeschlechtes der Haolde. Auf dem Gelände der Burg ist eine Martinskapelle nachweisbar, deren Patrozinium auf eine karolingische Entstehung bzw. auf die Existenz eines potenziellen karolingischen Königshofs verweist. Geseke war auf seiner Westflanke durch drei -hem-Ortswüstungen gesichert: dem 1,75 km westsüdwestlich unmittelbar am Hellweg nahe der Westerschledde gelegenen Stochem, dem 3,4 km nordwestlich Geseke bzw. 2,5 km nördlich Störmede lokalisierten Enechem und Withem, das zwischen Enechem und Geseke zu verorten ist. Bei Stochem wie auch Enechem handelt es sich nach archäologischem Befund um Siedlungsneugründungen des 9. Jh.s. Weiter westlich am Hellweg machen häufige Aufenthalte deutscher Könige und Kaiser ab 935 die Existenz eines Königshofes in Erwitte wahrscheinlich, der erstmals 1027 anläßlich seiner Übertragung an den Paderborner Bischof Meinwerk als solcher bezeugt und dessen Rückführung auf karolingisches Reichsgut wahrscheinlich ist. Erwitte war umgeben von den -heim-Siedlungen Glashem, Hocelhem und Osthem, einer partiellen Ortswüstung, deren Siedlungsrest der heutige Hof zur Osten darstellt. Für diese Orte ist bei der 3,2 km östlich von Erwitte gelegene Wüstung Osthem ein mittelalterliches Bestehen von der Merowingerzeit bis in das 14. Jh. (mit einer potenziellen Unterbrechung der Besiedlungskontinuität in sächsischer Zeit) zu erkennen. Die mittelalterliche Besiedlung der Ortsstelle Hocelhem – drei km ostnordöstlich Erwitte – erstreckte sich von der Merowingerzeit bis in das Spätmittelalter. Der Fund einer außerordentlich qualitätvoll gearbeiteten Gewandfibel aus dem Siedlungsumfeld, zu der ein Gegenstück aus der Umgebung des karolingischen Handelsortes Bardowiek in Niedersachsen besteht, macht zudem die zeitweilige Anwesenheit einer sozial höhergestellten Person(engruppe) wahrscheinlich (Abb. 2). Das 1,25 km westsüdwestlich von Erwitte gelegene Glashem mit seinen direkt am Hellweg lokalisierten Fundstellen war (erneut) von der Merowingerzeit bis in das ausgehende Mittelalter besiedelt.

Die -heim-Orte des südöstlichen Westfalen sind aus archäologischer Sicht zumeist in der Zeit um 800 n. Chr. bzw. im 9. Jh. entstanden. Somit bestätigt sich die Eingangshypothese, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Schutz karolingischer Etappenorte in deren Umfeld angelegt wurden. Darüber hinausgehend lässt sich eine kleine Gruppe von -heim-Siedlungen fassen, die zeitlich unmittelbar an Vorgängersiedlungen anknüpften und für die eine Deportation der westfälischen Bevölkerung im Verlauf der Sachsenkriege anzunehmen ist.

Das Besiedlungsmuster mit den einen frühmittelalterlichen Zentralort umgebenden -heim-Orten bleibt nicht auf den westfälischen Südosten beschränkt. Ähnliche Strukturen bestanden u. a. im Leinebergland um Northeim in Niedersachsen.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2009