weiterer Autor: Heinz Lienenbecker
Neubürger in der westfälischen Flora
Altheimische Arten und Archäophyten
Neophyten
Die Schienenstränge der Eisenbahn werden auf ähnliche Weise genutzt. Der wärmeliebende Purpur-Storchschnabel, Geranium purpureum, hat sein Hauptareal im westlichen Mittelmeerraum. 1992 galt er im Raum Basel als eingebürgert. Über das Rheintal und das Ruhrgebiet gelangte er entlang der Strecke Dortmund - Hannover bis 2002 ins Lippische Bergland. Der Dreifinger-Steinbrech, Saxifraga tridactylitis, als wämeliebende Art der Mauerkronen recht selten geworden, besiedelt inzwischen die Schotterflächen der Bahn und ist von Südosten kommend 2001 bis nach Rheine vorgedrungen. Als weitere Eisenbahnwanderer seien genannt: Zackenschote, Bunias orientalis, Stachellattich, Lactuca serriola, Schaumkresse, Cardaminopsis arenosa, Nachtkerzen-Sippen der Gattung Oenothera.
Zierpflanzen und ihre exotischen Begleitarten haben sich nicht selten aus Gärtnereien, Baumschulen und sogar Botanischen Gärten verflüchtigt. Das Franzosenkraut, Galinsoga parviflora, verwilderte um 1800 aus dem Botanischen Garten in Paris, das Kleine Springkraut, Impatiens parviflora, 1837 aus dem Botanischen Garten Berlin-Dahlem. Die Strahlenlose Kamille, Matricaria discoidea, entwich um 1850 aus Berlin-Schöneberg. Mit Baumschulware sind die Samen des Tellerkrauts, Claytonia perfoliata, des Spring-Schaumkrauts, Cardamine hirsuta, und des Gehörnten Sauerklees, Oxalis corniculata, in unsere Gärten gelangt und inzwischen in weiten Teilen des Landes allgegenwärtig. Zu den Gartenflüchtlingen gehört auch die Nachtviole, Hesperis matronalis, die seit dem 16. Jh. in Bauerngärten gehalten wurde, heute aber kaum noch als Gartenpflanze gepflegt wird, dafür aber an Wegeböschungen am Ortsrand vieler Dörfer vor allem des Berglandes und in den Fluss- und Bachauen in großen duftenden Beständen gedeiht. Auch das Zymbelkraut, Cymbalaria muralis, ist aus den Gärten längst verschwunden und wächst stattdessen in Mauerfugen inmitten der kleinen Mauerfarn-Arten.
Problemfälle
Besonders problembelastet ist das in den letzten Jahrzehnten sich vollziehende invasive Eindringen bestimmter längst etablierter Neophyten in heimische Pflanzengesellschaften. Es handelt sich dabei um wenige, dafür aber sehr auffällige und auch in der Öffentlichkeit bekannte Arten: den Riesen-Bärenklau (die "Herkulesstaude", Abb. 2), Heracleum mantegazzianum, das Drüsige Springkraut, Impatiens glandulifera (Abb. 3) und die beiden Staudenknöterich-Arten Fallopia japoncica und F. sachalinensis. Gelegentlich verdrängt ein Neophyt den anderen; so geschieht das gegenwärtig in den Ruhrstauseen, wo die Schmalblättrige Wasserpest, Elodea nuttallii, eine Massenvermehrung durchmacht (ihre übergroßen Bestände werden von Booten aus maschinell gemäht!) und dabei der bereits seit längerem eingebürgerten Kanadischen Wasserpest, E. canadensis, das Leben schwer macht.
Fazit
Die aufgeführten Arten haben sich über mehrere Generationen an ihren neuen Standorten gehalten und sich in bestehende Lebensgemeinschaften eingepasst (oder, je nach Sichtweise, eingedrängt). Wenn sie sich auch noch selbstständig vermehren, gelten sie als eingebürgert. Alle anderen bei uns eingeschleppten Arten - und ihre Zahl geht in die Tausende - sind nur vorübergehende, unbeständige, ephemere Gäste unserer Flora. Man findet diese Adventivpflanzen heute bevorzugt an nährstoffreichen offenen und gestörten Standorten: Ruderalstellen, Industriebrachen, Schutt- und Müllplätzen. Spätestens nach einem strengen Winter oder nach aufkommender Beschattung durch Bewuchs sind sie zumeist wieder verschwunden.
Unsere Flora ist in einem ständigen Wandel. Bei mehr als einem Drittel aller Arten ist heute ein Rückgang feststellbar, der im schlimmsten Fall zum Verschwinden ganzer Sippen führt. Alle Anstrengungen des Arten- und Naturschutzes haben das nicht verhindern, sondern allenfalls abschwächen oder verlangsamen können. Die Neophyten stellen für die verschwundenen botanischen Kostbarkeiten keinen echten Ersatz dar. Dennoch sollten die Neubürger als Elemente eines unvermeidlichen und letztlich auch natürlichen Florenwandels akzeptiert werden - auch wenn uns das bei den hochinvasiven Arten gelegentlich schwer fallen mag. Eine vorurteilsfreie, sachkundige Beurteilung der "Neophyten-Problematik" kommt inzwischen zu dem Ergebnis, dass "eine Bedrohung für einheimische Pflanzenarten durch Verdrängung … von der weitaus größten Zahl der Neophyten" nicht ausgeht (Schmitz & Lösch 2005).
Weiterführende Literatur/Quellen
• | Diekjobst, H. (1988): Neubürger in der Flora Westfalens. In: Natur- und Landschaftskunde, Nr. 24. o. O., S. 33-38; 65-71 | |
• | Haeupler, H. und P. Schönfelder (1989): Atlas der Farn- und Blütenpflanzen der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart | |
• | Haeupler, H., A. Jagel und W. Schumacher (2003): Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen in Nordrhein-Westfalen. Recklinghausen | |
• | Kowarik, I. (2003): Biologische Invasionen: Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa. Stuttgart | |
• | Lienenbecker, H. (1980): Adventiv- und Ruderalflora einer Mülldeponie im Kreis Gütersloh. In: Natur und Heimat, Nr. 40. o. O., S. 109-111 | |
• | Lienenbecker, H. (1997): Vorkommen und Vergesellschaftung des Purpur-Storchschnabels (Geranium purpureum Vill.) im Raum Bielefeld-Gütersloh. In: Ber. Naturwiss. Verein Bielefeld, Nr. 38. o. O., S. 121-126 | |
• | Lienenbecker, H. (2000): Das Dänische Löffelkraut (Cochlearia danica L.) nicht nur an Autobahnen. In: Natur und Heimat, Nr. 60. o. O., S. 127-130 | |
• | Lienenbecker, H. und I. Sonneborn (1979): Adventivpflanzen in der Umgebung von Bielefeld. In: Ber. Naturwiss. Verein Bielefeld, Nr. 24. o. O., S. 261-272 | |
• | Runge, F. (1977): Unsere Flora ändert sich. In: LÖLF-Mitteilungen 2/1977. Recklinghausen, S. 173-183 | |
• | Schmitz, U. und R. Lösch (2005): Neophyten und C4-Pflanzen in der Auenvegetation des Niederrheins. In: Decheniana, Heft 158. Bonn, S. 44-77 |
Erstveröffentlichung 2007