Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet

01.01.2007 Hans-Werner Wehling

Arbeitersiedlungen, die als Werks- oder Genossenschaftssiedlungen errichtet wurden, sind fester Bestandteil der industriellen Kulturlandschaft des Ruhrgebiets. Der eigentliche betriebliche Wohnungsbau begann mit der Industrialisierung um die Mitte des 19. Jh.s.

Seitdem wurde das freistehende Vierfamilienhaus mit Kreuzgrundriss bis zur Jahrhundertwende zur bevorzugten Baulösung, weil es mit vier getrennten Wohnungen die immer wieder beklagten Streitigkeiten zwischen den Bewohnern weitgehend vermeiden half und durch den Eindruck einer eigenen Wohnung die Sesshaftigkeit förderte. Die gegenüber Einzel- und Doppelhäusern geringere Anzahl an Außenwänden senkte zudem die Baukosten.

Nach der Reichsgründung führten in den 1870er, vor allem aber ab den 1890er Jahren die von der Aufwärtsentwicklung des Bergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie hervorgerufene starke Zuwanderung zu einer bis dahin unbekannten Ausdehnung des Werkssiedlungsbaus; größere zusammen hängende Siedlungskomplexe entstanden. Insbesondere in der zuvor dünn besiedelten Emscherzone wurden die Siedlungen zu einem bestimmenden Element der Siedlungsstruktur.
Abb. 1: Alte Kolonie Eving (Foto: H.-W. Wehling)
Die Unternehmen setzten das Angebot von Werkswohnungen auch als Mittel in der Konkurrenz um die Arbeitskräfte ein, um einen festen Arbeiterstamm zu gewinnen und an Werk bzw. Zeche zu binden. Eine Werkswohnung bot den Arbeitern ein Reihe von Vorteilen. Bei allgemeiner Wohnungsnot lagen die Mieten unter denen auf dem freien Wohnungsmarkt und waren die Wohnungen in der Regel geräumiger und besser ausgestattet. Gartenland und Stall erlaubten es, die Versorgung der Familie zu verbessern und bildeten für die Zuwanderer aus ländlichen Gebieten einen zusätzlichen Anreiz. Dagegen standen eine umfassende Kontrolle von Seiten des Unternehmens und die Bindung des Mietverhältnisses an das Arbeitsverhältnis, was die Mobilität einschränkte und zur Disziplinierung der Siedlungsbewohner beitrug.

Seit der Pariser Weltausstellung (1889) entwickelten sich auch für den Werkssiedlungsbau neue gestalterische Grundsätze. Diese betrafen zum einen die architektonische und ornamentale Ausstattung, zum anderen die sich langsam abzeichnende Tendenz, von der einfachen Reihung der Gebäude abzukommen und die Anlage der Siedlung als Gesamtkonzeption sichtbar zu machen; zu den frühen Beispielen gehört die sog. "Alte Kolonie Eving" von 1898 (Abb. 1).
Abb. 2: Siedlung Dahlhauser Heide (Quelle: Bronny/Jansen/Wetterau 2002)

Die Jahre von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg sind vom Kontrast unterschiedlicher städtebaulicher Konzepte geprägt. Bis ca. 1905/06 erzwang es die sehr große Wohnungsnachfrage, zahlreiche baulich geschlossene, mehrgeschossige Siedlungen zu errichten. Gleichzeitig wurde als Reaktion auf die in Großstädten wuchernde Mietskaserne und ebendiese Reihen- und Rasteranlagen des Ruhrgebiets die Konzeption der Gartenstadt propagiert. Ihr folgte in Bochum die Siedlung Dahlhauser Heide (Abb. 2), die die Firma Krupp zwischen 1906 und 1915 errichten ließ, wobei die Idee der Gartenstadt mit dem Heimatstil verquickt und eine Arbeitersiedlung mit dörflichem Charakter entworfen wurde (s. Beitrag Bronny).

Ende der 1970er Jahre wurde die Siedlung unter Denkmalschutz gestellt und seitdem unter Beibehaltung des äußeren Erscheinungsbildes durch umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen in ihrer Wohnqualität verbessert.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden für den Wohnungsbau gemeinnütziger Bauträger öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt. Auch die Industrie beteiligte sich nun an gemeinnützigen Wohnungsunternehmen. Die Bindung des Wohnungswesens an ein bestimmtes Unternehmen und die Abhängigkeit der Mieter von ihrem Arbeitgeber löste sich auf, als die Kopplung von Miet- und Arbeitsverhältnis gesetzlich verboten wurde.

Die Architektur blieb aber auch jetzt eher konventionellen Vorstellungen verhaftet; nur vereinzelt finden sich Beispiele des Neuen Bauens. Typisierung und das Bemühen um eine wissenschaftliche Grundlegung der Grundrissgestaltung stellen wesentliche Merkmale des Siedlungsbaus der Zwischenkriegszeit dar. Der Arbeiterwohnungsbau unterschied sich im Baustil nun kaum noch von anderen Wohnungsbaumaßnahmen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Arbeitersiedlungen aus der Zeit vor 1914 als rückständig und nicht erhaltenswert und wurden von den Eigentümergesellschaften häufig vernachlässigt. Erst ein verändertes Verständnis von Städtebau bewirkte in den 1970er Jahren einen Wandel dieser Einschätzung. Pläne zum Abriss von Arbeitersiedlungen trafen auf den wachsenden Widerstand der Bewohner, die stattdessen akzeptable Wohnbedingungen in ihren bestehenden Häusern forderten. Gleichzeitig lenkte der Strukturwandel die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern und Denkmalschützern auf die bau- und sozialgeschichtliche Bedeutung der Arbeitersiedlungen.

Der Ruhrtourismus weist heute im Rahmen seiner "Route der Industriekultur" (s. Beitrag Wehling) und der angeschlossenen Themenrouten Arbeitersiedlungen aus, deren unterschiedliche Bau- und Siedlungstypen im Laufe von fast 100 Jahren die Stadtlandschaft des Ruhrgebietes geprägt haben.

Abb. 3: Wichtige Arbeitersiedlungen im östlichen Ruhrgebiet (Entwurf: H.-W. Wehling, Quellen: KVR 1999-2001, RVR 2004 u.a.)

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007